Häufig wissen die Seenotretter nicht, was sie vor Ort erwartet oder wo sie überhaupt genau hinmüssen. Oft müssen sie erst suchen, bevor sie retten können. Im internationalen Sprachgebrauch wird ihre Aufgabe als SAR-Dienst bezeichnet. SAR steht für Search and Rescue, Suche und Rettung. Und manchmal gleicht ihr Einsatz der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. So wie am 11. November 2014, als zwei Angler auf der Ostsee mit ihrem offenen, manövrierunfähigen Boot im Nebel die Orientierung verlieren. Seit vielen Jahren fahren die beiden älteren Herren mit ihrem kleinen Boot zum Angeln vor der Halbinsel Fischland/Darß hinaus. Doch heute scheint sich alles gegen sie verschworen zu haben. Erst versagt der Motor, dann setzt gefährlicher Seenebel ein. Zwar springt der Motor nach einigen Versuchen wieder an, doch gelingt es den Anglern nicht, sich wieder der Küste zu nähern. Schließlich ist der Brennstoff verbraucht. Die Männer sind orientierungs-, ihr Boot steuerlos. Als sie den Notruf absetzen, kennen sie ihre genaue Position nicht.
Was sie den Seenotrettern mitteilen können: dass sie sich in einem Gebiet mit etwa 20 Metern Wassertiefe befinden und zwei kreuzende Fährschiffe gesehen haben. Die Rettungsleitstelle ist alarmiert: Aufgrund vorherrschender süd-südöstlicher Winde mit Geschwindigkeiten von 15 bis 20 Knoten und der Strömungsverhältnisse müssen die beiden bereits in der Nähe der engen und stark befahrenen Kadetrinne zwischen Deutschland und Dänemark sein. Sie drohen, mit ihrem Boot in den Großschifffahrtsweg hineinzutreiben – bei Sichtweiten unter 200 Meter. Und bald wird es dunkel. Die Rettungsleitstelle berechnet zwei Suchgebiete und koordiniert die Rettungseinheiten vor Ort, die von den Stationen Darßer Ort, Warnemünde, Wustrow und Kühlungsborn aus aufbrechen. Wegen des dichten Nebels ist der Einsatz von Hubschraubern zur Unterstützung der Suche nicht möglich. Es ist bereits dunkel, als der Seenotrettungskreuzer „Arkona“ den Havaristen nach einem Radarecho etwa zwölf Seemeilen vor Kühlungsborn entdeckt. Sie leuchtet den Fundort aus. „Wir saßen seit Stunden zusammengekauert in unserem Boot und hatten uns so gut es ging in unsere Kleidung eingehüllt, als es plötzlich um uns herum hell wurde. Da wussten wir: Jetzt sind wir in Sicherheit“, erinnert sich später einer der Angler.
Die Freiwilligen-Besatzung des Seenotrettungsbootes „Konrad Otto“ nimmt die beiden Männer an Bord, während die „Arkona“ den Havaristen in den sicheren Hafen schleppt. Schiffsführer Christoph Müller berichtet später: „Sie wollten gar nicht glauben, dass wir das Rettungsboot aus Kühlungsborn sind, denn sie wähnten sich immer noch östlich von Warnemünde.“ Immer wieder stellen selbst erfahrene Skipper fest, wie schnell man da draußen die Orientierung verlieren kann.
Besonders schnell geht das im Einsatzgebiet der Seenotretter von Neuharlingersiel. Viele Nordsee-Urlauber unterschätzen die Gefahren, die vom Watt ausgehen. Gewitter, Nebel, Schlick- und Muschelfelder und sich ständig verändernde und schnell volllaufende Priele – eine Wattwanderung ohne erfahrenen Wattführer kann lebensgefährlich werden. Pfingsten 2008 kommt es vor Neuharlingersiel zu einem dramatischen Rettungseinsatz der Besatzung der „Neuharlingersiel“. In letzter Minute rettet die Crew fünf Kinder aus den steigenden Fluten.
Noch Minuten vorher hatten die Mädchen im Alter von zehn bis 14 Jahren das vorsommerliche Wetter genossen und Muscheln gesammelt, als plötzlich und überraschend schnell das Hochwasser kommt und ihnen ein Priel den Weg zurück versperrt. Zu ihrem Glück erkennt ein Angehöriger vom Strand aus den Ernst der Lage und alarmiert die Polizei, die den Notruf sofort an die Rettungsleitstelle See der DGzRS weiterleitet. Keine fünf Minuten später läuft das Seenotrettungsboot „Neuharlingersiel“ aus dem Hafen. Als die Crew um Vormann Wolfgang Gruben und Rettungsmann Peter Henning vor Ort eintrifft, stehen die Mädchen bereits bis zum Hals im Wasser und können sich in der Strömung kaum mehr halten. Verzweifelt klammern sie sich an einer Fahrwassertonne fest. Die scharfkantigen Seepocken zerschneiden ihnen die Haut. Die Seenotretter ziehen die unterkühlten und unter Schock stehenden Kinder durch die Bergungspforte an Bord und übergeben sie an Land ihren erleichterten Eltern.
15 Jahre später: In Neuharlingersiel wurde gerade die „Courage“, das jüngste der 9,5/10,1-m-Seenotrettungsboote, in Dienst gestellt, als am Sonntagabend, dem 18. Juni 2023, ein Notruf eingeht. Ihr erster Einsatz: Eine Gruppe von Wattwanderern steckt zwischen Spiekeroog und dem Festland fest. Ein Priel versperrt den drei Erwachsenen mit einem kleinen Kind und einem Hund den Rückweg. Anhand der GPS-Daten eines Mobiltelefons können sie schnell geortet werden. Die Crew der „Courage“ ist innerhalb von Minuten vor Ort und bringt sie sicher an Land. Der Name des neusten Seenotrettungsbootes ist auf Wunsch der Spender eine Hommage an die freiwilligen Seenotretter, die couragiert und selbstlos im Einsatz sind, um auf See in Not geratene Menschen zu retten – und das seit fast 160 Jahren.
Weitere Informationen: www.seenotretter.de