Torsten Moench
· 19.09.2022
Ost-West-Transit: Es muss nicht immer Sommer sein, ein Herbsttörn hat seine ganz eigenen Reize. Wir fahren von Werder an der Havel nach Hamburg
Wir sind spät dran. Und das im doppelten Sinne: Erstens ist es Ende Oktober, und zweitens ist es früher Samstagnachmittag, als wir zu unserem Herbsttörn aus der Marina Havelauen in Werder nach Hamburg aufbrechen. Unser Ziel ist es, die rund 350 Kilometer über Havel, Mittellandkanal, Elbe-Seitenkanal und Elbe in einer Woche zu absolvieren. „ETA HH nächsten Samstag später Nachmittag“, lese ich in meiner Törnplanung. „Warum ist das wichtig?“, höre ich Skipperin Kathrin fragen, als wir die letzten Reisetaschen ins Cockpit stellen.
Nun, hinter der letzten Elbschleuse bei Geesthacht bekommen wir es mit den Gezeiten zu tun, und bei den rund 8 kn Topspeed unserer Futura 36 ist es sinnvoll, „ablaufendes Wasser“ zu nutzen, und das ist laut Tidenkalender eben am Samstagnachmittag der Fall. Kathrin nickt, kontrolliert ein letztes Mal die Füllstände von Öl, Kraftstoff- und Frischwassertank, dann startet sie den 80-PS-Yanmar. Unsere Rollen sind klar verteilt: Sie fährt, ich navigiere. In Schleichfahrt schieben wir unter der bunt bemalten Hafenbrückehindurch Richtung großer Zernsee. Trotz Wochenende ist außer uns weit und breit kein Boot in Sicht, als „Elle“ ihren geraden Steven gen Norden richtet. Vorbei am Yachthafen Ringel, in dem wir vor einigen Tagen noch vollbunkerten.
Theoretisch müssten die 200 Liter Diesel locker bis Hamburg reichen, wir führen dennoch zwei 20-Liter-Kanister als Reserve mit. Gegen 16 Uhr liegt „Elle“ gut vertäut an der äußeren Spundwand des Hafens Havelmarin. Der Himmel reißt auf, die Abendsonne lässt einen Hauch von Indian Summer über die Havel wehen.
Die Nacht war mit rund drei Grad überraschend kühl. Gegen neun Uhr erwecken wir den Yanmar-Motor zum Leben und hängen uns bei leichtem Morgendunst ins Kielwasser der uns just passierenden „Bonata“, eines polnischen Binnenschiffs. Das Berufsschiff, so unsere Hoffnung, wird sicher angemeldet sein und uns quasi im „Windschatten“ eine wartezeitfreie Passage durch die vor uns liegenden Schleusen ermöglichen. Durch den Plauer See und den Wendsee, auf dem außer uns und der „Bonata“ nur einige Paddler unterwegs sind, erreichen wir gegen elf Uhr bei Stromkilometer 379 die Einfahrt in den Elbe-Havel-Kanal und die kurz dahinter liegende Schleuse Wusterwitz.
Der Morgendunst ist inzwischen schönstem Sonnenschein gewichen, welcher die teils schon herbstlich gefärbten Uferbäume in prächtige Farben taucht. „Fast wie Urlaub“, sagt Kathrin und schaltet die bis dahin stets gelaufene Heizung endgültig aus. Von unserem heutigen Etappenziel Burg bei Magdeburg trennen uns noch rund 25 Kilometer und die Schleuse Zerben. Grob gerechnet also rund drei Stunden Fahrtzeit, vorausgesetzt, die immer noch vor uns fahrende „Bonata“ hängt uns nicht ab. Bei Kilometer 351 müssen wir uns endgültig entscheiden: Bleibt es beim ursprünglichen Plan, Hamburg über den Mittellandkanal und den Elbe-Seitenkanal anzulaufen, oder wechseln wir über den Pareyer Verbindungskanal direkt auf die Elbe? Beides hat Vor- und Nachteile. Auf der Elbe würde uns die Strömung schneller machen, andererseits ist die Strecke, auch wenn es auf der Karte zunächst anders aussieht, länger.
Ausschlaggebend für die ursprüngliche Kanal-Idee ist dann aber der teils niedrige Wasserstand der Elbe. Obwohl „Elle“ mit rund 70 cm Tiefgang eher „flachgehend“ ist, bevorzugt Skipperin Kathrin die sichere und schlussendlich auch schnellere Variante. Nachdem Schleuse Zerben gegen 15 Uhr passiert ist, laufen wir am späten Nachmittag in die Anlage der „Wassersportfreunde Burg von 1924“ ein.
Der Hafen, der im Wesentlichen eine halbkreisförmige Ausbuchtung des Elbe-Havel-Kanals mit rund 30 Liegeplätzen ist, ist bei unser Ankunft nahezu leer. Wir entscheiden uns für einen Platz an der Backbordseite und erreichen den freundlichen Hafenmeister telefonisch. Tag drei beginnt, wie Tag zwei endete. Bei strahlendem Sonnenschein, aber kühlen Temperaturen verlassen wir Burg mit Ziel Haldensleben. Der heutige Tag verspricht spannend zu werden. Zum einen erwartet uns die Schleuse Hohenwarthe mit ihren respekteinflößenden 19 Metern Hubhöhe und zum anderen die Trogbrücke Magdeburg, die mit fast einem Kilometer Länge die größte Kanalbrücke Europas ist.
Schon von Weitem erkennen wir den imposanten Schleusenleitstand, der auf seinem gelben Turm zwischen den Schleusenkammern thront. „Oha, das ist mal ’ne Schleuse. Und dazu kein Schiff weit und breit. Das kann ja dauern“, sagt Kathrin, legt unser 11-Meter-Boot gekonnt zwischen die Poller der Sportbootwartestelle und schaltet in Erwartung einer längeren Törnpause die Kaffeemaschine ein. Ich greife derweil zum Mikrofon und kontaktiere auf UKW-Kanal 26 den rund 500 Meter entfernten Leitstand. „Die Nordkammer ist gleich unten, Sie machen bitte Backbord zwischen Poller fünf und sechs fest. Heck ordentlich dichtholen“, höre ich die Stimme des Schleusenmeisters aus dem Lautsprecher der Icom-Anlage. Ich kann es kaum fassen. Sollte er dieses riesige Bauwerk wirklich für uns alleine in Betrieb setzen? Und was heißt festmachen zwischen Poller fünf und sechs? Als Hamburger bin ich weder solchen Service noch das „Festmachen“ in einer Schleuse gewohnt.
Wenige Minuten später hebt sich tatsächlich das Nordtor, die Signale springen auf Grün, und wir fahren ein. „Das Heck gut dichtholen“, ermahnt uns erneut die Stimme aus dem UKW-Gerät. Unglaublich, dieser Mann sieht wirklich alles.
Dann geht alles ganz schnell. 45.000 Kubikmeter Wasser strömen in die Kammer, und „Elle“ rutscht an den Schwimmpollern sicher 19 Meter in die Höhe. Im Oberwasser angekommen, ab jetzt heißt der Elbe-Havel-Kanal übrigens Mittellandkanal, sind es noch rund 2,5 Kilometer zur nächsten Attraktion des Tages, der Trogbrücke über die Elbe. Auch hier ist eine Anmeldung über UKW oder Sprechanlage erforderlich. Ich greife also wieder zum Mikrofon und sage meinen Spruch auf. „Das habe ich mir schon fast gedacht“, ertönt eine mir inzwischen bekannt vorkommende Stimme aus dem Lautsprecher. Was wir nicht wussten: Auch die Passage der Trogbrücke wird vom Leitstand Hohenwarthe gemanagt.
Das Befahren der Trogbrücke unterscheidet sich durch nichts von einer normalen Wasserstraße. Rechts bleiben und Geschwindigkeit halten – mehr ist nicht zu tun. Die Aussicht über die darunter fließende Elbe macht es dennoch zu einem Erlebnis.
Zu den nun folgenden 20 Kilometern auf dem Mittellandkanal vermerkt das Logbuch: „Tristesse“. Überwiegend schnurgerade geht es durch die Elbniederung, und selbst die Brücken gleichen einander wie ein Ei dem anderen. Da der Sportboothafen Haldesleben zu dieser Jahreszeit schon geschlossen ist, fällt unsere Wahl auf den rund 15 Kilometer entfernten Sportboothafen Calvörde (Kanalkilometer 286). Einlaufend an Steuerbord, befinden sich die nach Bootslänge sortierten Gästeplätze. Wir haben die freie Wahl und nehmen einen der ersten 10-Meter-Plätze. Ein Blick auf die digitale Tankuhr zeigt eine Restmenge von 64 Prozent (130 l). Berücksichtigt man, dass wir seit Start bereits rund 140 Kilometer zurücklegten, liegt der Durchschnittsverbrauch unseres 80-PS-Yanmar also bei 0,5 l pro Kilometer. Ein sehr guter Wert. Für die noch vor uns liegenden 210 Kilometer bis nach Hamburg würde der verbliebene Tankinhalt also reichen. Wir entscheiden uns dennoch, am nächsten Tag die mitgeführte Kanisterreserve nachzubunkern.
Tag vier, Dienstag. Die Sonne bricht durch die Wolkendecke, mit zehn Grad ist es aber alles andere als warm – die Heizung läuft. Gegen 10 Uhr schiebt „Elle“ ihren Bug über Backbord wieder auf den Kanal, und wir machen uns auf den Weg ins 42 Kilometer entfernte Wolfsburg. Eine kurze Etappe also. Der Mittellandkanal zeigt sich in seinen schönsten Herbstfarben, an der Tristesse auf den elendig langen, schnurgeraden Passagen ändert das aber nichts.
Auch heute, an einem Werktag, ist kaum Schiffs- geschweige denn Sportbootverkehr zu vermerken. Die telefonische Anmeldung beim 1. Motorbootclub Wolfsburg läuft problemlos, und uns wird ein Platz direkt gegenüber der Hafeneinfahrt zugewiesen. Und diese hat es in sich. Mit knapp acht Meter geschätzter Breite bleiben uns zu jeder Seite rund zwei Meter. So weit kein Problem, wären da nicht die starken Strömungen, verursacht durch vorbeifahrende Binnenschiffe. Kathrin wartet also die Passage eines Entgegenkommers ab und schwingt dann beherzt den Bug unseres wellengetriebenen Verdrängers mit Bugstrahlunterstützung in die Einfahrt und anschließend in die direkt voraus liegende Box. Chapeau!
Bringt man genug Zeit mit, liegen die Autostadt, das Automuseum oder beispielsweise das Wolfsburger Outlet-Center in fußläufiger Entfernung. Definitiv ein Hafen für mehr als eine Nacht.
Am nächsten Morgen hat das Wetter umgeschlagen: Regen und 4 Beaufort Wind erinnern uns an die Jahreszeit – Herbst eben. Zurück auf dem Kanal, geht es vorbei am VW-Werk und der Autostadt zur Schleuse Sülfeld kurz hinter Fallersleben. Für uns inzwischen zur Routine geworden, passieren wir die Südkammer in bummelig 30 Minuten und erreichen gegen Mittag die Einfahrt in den Elbe-Seitenkanal. Unser AIS signalisiert lediglich zwei Mitläufer rund zehn Kilometer voraus, keine Chance, uns dort noch dranzuhängen und die etwa 60 Kilometer entfernte Schleuse Uelzen bei Tageslicht mit ihnen zu passieren. Entscheidung: Sportboothafen Wittingen bei Kilometer 39. Die rund vier Stunden sind gut zu schaffen, außerdem haben wir damit die Gelegenheit, Bekannte aus der „Bierstadt“ Wittingen auf ein Getränk zu treffen.
Die Farbe des Wassers ändert sich von Graublau zu Graugrün, und die Uferbewaldung scheint ausschließlich aus Birken zu bestehen. Kilometer um Kilometer das gleiche Bild, und wir scheinen den Kanal komplett für uns allein zu haben. Ab Kilometer 31 lässt uns dann auch noch das Handynetz im Stich, sodass eine telefonische Hafenanmeldung in Wittingen unmöglich wird. Gegen 15 Uhr erreichen wir den laut Internet „vorübergehend geschlossenen“ Sportboothafen. Was nun? Alternativ legen wir an der neuen Kleinfahrzeug-Liegestelle kurz hinter der Brücke am Ostufer an.
Eine Rückfrage bei unseren ortskundigen Bekannten ergibt, dass wir dennoch im Hafen anlegen können, die Liegegebühr könne man außerhalb der Saison auch im Postkasten deponieren.
Gesagt, getan. Fünf Minuten später passieren wir die mit etwa 1,4 Meter Wassertiefe flache Einfahrt und legen „Elle“ an den völlig freien Gästesteg. Die Liegegebühr wird nach Aushang berechnet und in besagtem Postkasten hinterlegt.
Freunde und Kollegen, allen voran BOOTE-Reiseredakteur Jürgen Straßburger, hatten uns gewarnt: „Auf dem Elbe-Seitenkanal gibt es zwei Hindernisse, deren Überwindung zeitlich kaum zu kalkulieren ist. Erstens die Schleuse Uelzen und zweitens das Hebewerk in Scharnebeck. Unter ein bis zwei Stunden Wartezeit kommt ihr da niemals durch.“ Nun, Hindernis Nummer eins liegt am nächsten Morgen mit geöffnetem Tor und Doppelgrün vor uns. Ungläubig greife ich zum UKW-Gerät, schalte auf Kanal 65 und frage nach der zu erwartenden Wartezeit, schließlich muss ich davon ausgehen, dass wir auf das nächste Binnenschiff warten müssen. „Wartezeit? Die Kammer steht auf Grün, Sie können sofort einfahren“, lautet die Antwort vom Schleusenwärter. Mal wieder können wir unser Glück kaum fassen. 20 Minuten später ist die Schleuse Uelzen in Rekordzeit passiert, und es geht weiter auf Nordkurs Richtung Bad Bevensen.
Obwohl die verbleibenden 45 Kilometer zum Schiffshebewerk Scharnebeck in Tagesreichweite scheinen, entscheiden wir uns dennoch für einen weiteren Zwischenstopp im beschaulichen Bad Bevensen, welches wir gegen Nachmittag erreichen. Die dortige Sportbootliegestelle bietet keinerlei Infrastruktur, ist aber ruhig und etwas abseits des Kanals in einer Wendestelle gelegen. Mit nunmehr nur noch ein bis zwei Grad werden die Nächte deutlich kühler, und unsere Bordakkus (3x 120 Ah) müssen am Morgen neben der Heizung auch noch den 230-V-Toaster und die Kaffeemaschine versorgen.
Durch einen herbstlich gefärbten Kiefernwald folgen wir dem „Heide-Suez“, wie der ESK auch genannt wird, zur Touristenattraktion Schiffshebewerk Scharnebeck. Die Anmeldung über die Wechselsprechanlage ergibt eine Wartezeit von rund zehn Minuten. So langsam beginnen wir die Vorteile unserer Alleinfahrt“ zu genießen und laufen hinter einem Binnenschiff ein. Im Hebewerk angekommen, läuft alles viel einfacher als gedacht. Da man in einer Art „Badewanne“ nach oben gehoben wird, gleicht die Prozedur dem normalen Festmachen. Man muss sich weder um variierende Wasserstände noch um dreckige Spundwände kümmern. Dazu das Logbuch: „Einfahren, Festmachen, Ausfahren – fertig.“
Von Scharnebeck geht es zehn Kilometer schnurgerade in Richtung Elbe, deren Strömung uns in Höhe der Ortschaft Artlenburg gleich um knapp 3 km/h schneller macht. Endlich. Heimatgefühle kommen auf, als wir „unseren“ Strom unter dem Kiel haben und Kathrin in „Rauschefahrt“ auf Westkurs geht. In Geesthacht, unserem letzten Etappenziel, angekommen, zeigt sich uns ein trostloses Bild. Die dortigen Steganlagen sind im Umbau und eigentlich nicht für den Gästebetrieb vorgesehen – schon gar nicht außerhalb der Saison. Ein Anruf beim Hafenmeister der Segler-Vereinigung Geesthacht ergibt, dass wir uns dennoch für eine Nacht an den Hauptsteg legen dürfen. Infrastruktur gibt’s jedoch keine.
Am nächsten Morgen gilt der erste Griff erneut dem UKW-Gerät. Wir hören als Frühstücksradio UKW-Kanal 1 ab und warten auf das nächste Binnenschiff. Nach kaum zehn Minuten dann die erwartete Nachricht: Ein Berufsschiff passiert unsere Liegestelle stromabwärts in Richtung Schleuse, und wir hängen uns dran. Kaum 30 Minuten später befinden wir uns im Unterwasser der Schleuse Geesthacht und damit endgültig im Tidenbereich der Elbe. Wie zu Törnbeginn kalkuliert, ziehen uns Elbströmung und Gezeiten mit plus 3 km/h vorbei am Restaurant Zollenspieker und der Bunthäuser Spitze gen Hamburg. Um 14 Uhr dann die letzte Abbiegung nach Steuerbord in die Dove-Elbe bei Flusskilometer 615, unserem Ziel. Die dortige Schleuse erreichen wir trotz „ablaufend Wasser“ bei einem mehr als ausreichenden Wasserstand. Nach dem Passieren der letzten Schleuse liegt unser endgültiges Ziel, der Sportboothafen Möller, vor uns.
Lassen wir den gesamten Herbsttörn Revue passieren, können wir sagen, dass die Strecke von Werder an der Havel nach Hamburg auch in weniger als einer Woche und ohne das Nachtanken unseres Boots (200 l) zu bewältigen gewesen wäre. Alles in allem hat der Herbst als Reisezeit viele Vorteile, jedoch spielen eine gründliche Törnvorbereitung und das Einholen von Informationen über Hafen- und Schleusenbetriebszeiten, beispielsweise über ELWIS.de, eine noch wichtigere Rolle als im Sommer.
Dieser Artikel stammt aus BOOTE 10/2022 — seit dem 14.09.2022 am Kiosk oder online direkt im Delius Klasing-Shop.