Wenn Menschen auf See in Not geraten, sind häufig schlechtes Wetter und menschliches oder technisches Versagen die Ursache. Doch nicht immer sind Kenterungen, Wassereinbruch oder Motorschaden Grund für den Einsatz der Seenotretter. Sie kommen auch, wenn Menschen auf hoher See krank werden oder sich verletzen. Als am 19. Februar 2022 ein Besatzungsmitglied der Fähre „Finnfellow“ im Maschinenraum bewusstlos zusammenbricht, wird eine nahtlose Rettungskette in Gang gesetzt, die dem Mann schlussendlich das Leben rettet.
Die Seenotretter der Station Travemünde kehren gerade von einem Ausbildungstörn mit ihrem Seenotrettungsboot „Erich Koschubs“ zurück, als der Anruf eingeht: Ein Crewmitglied einer Fähre, 20 Seemeilen von Travemünde entfernt auf dem Weg nach Malmö, hatte offenbar einen Herzinfarkt. Jetzt zählt jede Sekunde. Während ein Notfallsanitäter der Rettungsleitstelle telefonisch Anleitung zur Reanimation gibt, ist die „Erich Koschubs“ unter voller Fahrt auf dem Weg zur Fähre. Über die Verkehrszentrale Travemünde lässt Vormann Patrick Morgenroth den Weg frei machen, andere Schiffe müssen warten. Eine Fähre, die mitten im engen Fahrwasser plötzlich dreht, kann zu einem riesigen Problem werden. Zeitgleich werden Notarzt und Sanitäter zum Seenotrettungskreuzer „Felix Sand“ in Grömitz gebracht und die Leitstelle fordert Hubschrauberunterstützung an. Unter Höchstgeschwindigkeit laufen die Fahrzeuge im lotsenpflichtigen Revier aufeinander zu und treffen zeitgleich ein. Für die „Felix Sand“ ist die Wallschiene der „Finnfellow“ ein großes Hindernis. Nach kurzer Beratung entscheiden die Vorleute der Rettungseinheiten, dass nicht der Kreuzer, sondern das Seenotrettungsboot längsseits geht und Seenotretter und Mediziner übersteigen lässt.
Das 10,1-m-Seenotrettungsboot nähert sich der 190 Meter langen Fähre. An der Seite zieht der riesige Schriftzug „Finnlines“ vorbei. Im zweiten „i“ erkennt Vormann Patrick Morgenroth die geöffnete Lotsentür und die Strickleiter. Im Seegang springt das kleine Boot auf und ab. Die Maschine läuft auf Hochtouren. Morgenroth ist hoch konzentriert. Das Manöver muss klappen, und zwar schnell. Irgendwo da unten im Schiffsbauch kämpfen ein paar Seeleute um das Leben ihres Kollegen. Schließlich gelingt es ihm, bei starkem Seegang in Höhe der Lotsenleiter längsseits zu gehen. Dr. Jörg Sandmann, freiwilliger Seenotarzt der Station Travemünde, und seine Kollegen greifen beherzt nach der Leiter und gehen an Bord. Sie übernehmen die Reanimation und schaffen es, den Patienten so weit zu stabilisieren, dass er transportfähig ist. Die nächste Herausforderung: Der Mann muss unter Beatmung sieben Schiffsdecks zum Windendeck hinaufgebracht werden. Mit der Trage über den Köpfen geht es durch die engen Treppenaufgänge aufs Oberdeck. Hier wurde in der Zwischenzeit bereits das Windenmanöver vorbereitet, um den Patienten mit dem nun eingetroffenen Rettungshubschrauber zu bergen.
Nicht immer ist ein Abtransport per Hubschrauber möglich. Dann müssen verletzte und kranke Personen auch mal mehrere Meter hohe Bordwände heruntergelassen werden. So wie am 19. August 2009, als bei der DGzRS-Station Brunsbüttel ein Notruf wegen eines schwer verletzten Seemanns an Bord des Containerschiffs „Husky Racer“ eingeht. Seit 1999 ist das Seenotrettungsboot „Gillis Gullbransson“ vor den Kanalschleusen in Brunsbüttel stationiert. Ihr Einsatzgebiet ist das viel befahrene Revier der Außenelbe mit den Zufahrten zum Hamburger Hafen und zum Nord-Ostsee-Kanal. Routiniert setzen die freiwilligen Seenotretter zuerst Sanitäter und Notarzt zum Containerschiff über und übernehmen dann den Patienten mithilfe der Korbtrage an Bord und bringen ihn an Land. Die Brunsbütteler Crew hat einige Erfahrung im Abbergen von Personen von Containerschiffen. Ein Jahr zuvor retten sie eine schwer erkrankte junge Indonesierin, Besatzungsmitglied eines Massengutfrachters. 15 Minuten nach dem Anruf der Rettungsleitstelle ist die Crew der „Gillis Gullbransson“ mit zwei Seenotrettern und zwei Rettungsassistenten unterwegs. 20 Meter Lotsenleiter gilt es zu überwinden, um zu der Patientin zu gelangen und sie auf gleichem Weg zu bergen. Dank jahrelanger Erfahrung und regelmäßiger Übungen gelingt dem eingespielten Team das mutige Unterfangen. Routiniert sichern sie die Patientin, versorgen sie an Bord und übergeben sie den Rettungskräften an Land.
Weitere Informationen: www.seenotretter.de