ReportageSeenotrettungsboote für die DGzRS und ihre Einsätze

Jill Grigoleit

 · 06.11.2023

Von Borkum bis Usedom, von der Brandungszone bis weit hinaus auf hohe See: Die 9,5-/10,1-Meter-Seenotrettungsboote stellen rund zwei Drittel der Rettungsflotte der DGzRS
Foto: DGzRS - ypscollection.de
Die Seenotrettungsboote sind kompakt, sie sind schnell und sie sind sturmerprobt. Alles an ihnen ist auf einen Zweck hin ausgerichtet: zu bergen und Leben zu retten. Und das bei jedem Wetter

Die 9,5-/10,1-Meter-Seenotrettungsboote der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) sind in nahezu allen Revieren der deutschen Nord- und Ostsee im Einsatz. Gefahren werden sie von Freiwilligen-Besatzungen. Sie leben und arbeiten im Umfeld ihrer Station, sind nach Alarmierung innerhalb weniger Minuten am Hafen, besetzen das Boot und laufen zum Einsatz aus. Gegen Ende des vergangenen Jahrtausends wurden die in die Jahre gekommenen Einheiten der DGzRS nach und nach durch eine neue, verbesserte Klasse abgelöst. Die neuen Boote waren nur geringfügig größer als ihre Vorgänger, aber durch die enormen Fortschritte bei den Navigations- und Kommunikationsmitteln sehr viel leistungsfähiger. Sie wurden mit zusätzlichen Auftriebskammern ausgestattet, die die Boote nach einer Kenterung wieder aufrichten. Den Anfang machte 1999 „Wilma Sikorski“, das Typschiff der 9,5-/10,1-Meter-Klasse. Aufbauend auf den Erfahrungen mit den Seenotrettungsbooten der 8,5-Meter-Klasse entwickelten Vorleute und Konstrukteure der DGzRS den neuen Typ und statteten ihn mit zahlreichen Verbesserungen und Weiterentwicklungen aus. Auffallendstes Merkmal: die Delta-Form des Rumpfes, die bei geringem Widerstand eine hohe Stabilität und gute See-Eigenschaften besonders beim Laufen vor der See gewährleistet. Beibehalten wurden die bewährten Prinzipien der Konstruktion im Netzspantensystem, vollständig aus Aluminium. Im Unterschied zu den Vorgängern wurde aber auf den zweiten, unteren Fahrstand verzichtet, sodass hier mehr Platz ist, um Verletzte unterzubringen und medizinisch zu versorgen. Der geschlossene obere Fahrstand ist mit modernster Navigationstechnik ausgerüstet. Die vergrößerte Plicht und der vorgezogene Mast erleichtern die Zusammenarbeit mit Hubschraubern beim Abbergen von Verletzten und die größere Bergungspforte vereinfacht es, im Wasser treibende Menschen aufzunehmen …

Seenotrettungsboot „Werner Kuntze“

… ein Detail, das einem schiffbrüchigen Segler in der Flensburger Förde im November 2008 das Leben rettet. Als sich Axel-Willy Bohn, dritter Vormann der Freiwilligen-Station Langballigau gerade für ein kurzes Mittagsschläfchen hinlegen will, klingelt sein Mobiltelefon. „MRCC Bremen hier. Wir haben einen Einsatz für Sie.“ Sofort ist Bohn hellwach, steigt in den roten Overall und ruft den Rest der Crew an. Minuten später ist das 9,5-m-Seenotrettungboot „Werner Kuntze“ klar und läuft aus Richtung Holnis. Von Südwesten schiebt sich eine schwarze Wolkenwand über die Flensburger Förde. In wenigen Augenblicken wird ein Hagelschauer losbrechen, begleitet von Blitz, Donner und heftigen Sturmböen. Es geht ein ungemütlicher Südwestwind mit Stärken um neun Beaufort und mit Spitzen um 76 km/h. Auch der SAR-Hubschrauber der Marine, Sea King MK 2, ist unterwegs zur Unglücksstelle. Er ist von MRCC BREMEN ebenso alarmiert worden wie die gesamte Schifffahrt im Revier. Darunter die Wasserschutzpolizei und der Fischkutter „Mariechen“, der als Erster vor Ort eintrifft. Die zweiköpfige Crew der havarierten Jolle hatte alle Register gezogen: Großsegel geborgen, Vorsegel stark gerefft. Doch eine Böe hatte das Boot mit verheerender Wucht getroffen und es zum Kentern gebracht. Nun treibt es kieloben in der unruhigen See. Die Segler versuchen, sich auf den Rumpf zu retten und klammern sich am Kiel fest. Wie durch ein Wunder beobachtet ein Spaziergänger an Land das Drama und alarmiert die Leitstelle.

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Als die „Werner Kuntze“ eintrifft, hat der Kutter die Seglerin schon an Bord. Der 70-jährige Mann treibt noch in der acht Grad kalten Ostsee. Ohne zu zögern streift sich Rettungsmann Oliver Bohn den wasser- und kälteschützenden Überlebensanzug über und springt in die eisige See. Später berichtet er: „Als wir nahe genug dran waren, konnten wir sehen, dass sich ein Mensch an einem Tampen der gekenterten Jolle festklammert. Wir hielten gut 15 Meter Abstand. Die See war zu aufgewühlt, näher ranzugehen, war zu gefährlich.“ Beherzt packt der Seenotretter den unter Schock stehenden Segler und schleppt ihn mit kräftigen Schwimmstößen zur offenen Bergungspforte. Währenddessen funktioniert sein Kollege den Aufenthaltsraum des Seenotrettungsboots zum Bordhospital um. In der Sprache der Seeleute heißt das: warme Decken, trockene Klamotten, Sauerstoff. Nachdem der Mann an Bord ist, übernimmt die Crew noch die Frau vom Kutter und dann geht es „voll voraus“ nach Minde. Knapp 45 Minuten nach dem Alarm ist der Einsatz abgeschlossen. Rettungssanitäter und Notärztin übernehmen die schiffbrüchigen Segler. Der Mann kommt mit nur noch 30 Grad Körpertemperatur in ein Krankenhaus. Er wird es überleben. Dank des schnellen und beherzten Einsatzes der Freiwilligen-Crew aus Langballigau.

Seenotrettungsboot „Kurt Hoffmann“

In vielen Fällen ist es nur der guten Zusammenarbeit mehrerer Rettungseinheiten und der Aufmerksamkeit und dem Eingreifen von Dritten vor Ort zu verdanken, dass Menschen gerettet werden können. So auch im September 2016, als ein Motorboot etwa zehn Seemeilen nordwestlich von Rügen ein unbekanntes Objekt im Wasser rammt und starken Wassereinbruch erleidet. Nur wenige Minuten bleiben dem Skipper, um über UKW-Funk einen „Mayday“-Ruf abzusetzen, bevor er sich auf seine Rettungsinsel rettet. Die Rettungsleitstelle See in Bremen alarmiert den Seenotrettungskreuzer „Harro Koebke“ in Sassnitz und die Besatzung des Seenotrettungsboots „Kurt Hoffmann“ von der Station Glowe an der Nordküste Rügens sowie die umliegende Schifffahrt und einen Hubschrauber der DRF Luftrettung. In enger Zusammenarbeit gelingt es den Rettungseinheiten und einem Windparkversorgungsschiff, das als Erstes vor Ort ist, den Mann zu retten und das havarierte Boot zu bergen. Die freiwilligen Seenotretter gehen mit der „Kurt Hoffmann“ längsseits und schaffen es, das Boot mit mobilen Pumpen so weit leer zu pumpen, dass der massive Schaden am Bug als Ursache für den Wassereinbruch ausgemacht werden kann. Ein Einschleppen ist unmöglich, das Boot würde sinken. Das Mehrzweckschiff „Arkona“ nimmt daraufhin den Havaristen mit bordeigenem Kran an Deck.


Hier finden Sie den zweiten und dritten Teil der Seenotretter-Reportage:


Über die Seenotretter der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS)

Alle Seenotrettungsboote sind wie alle DGzRS-Einheiten als Selbstaufrichter konzipiert und mit modernster Navigations- und Kommunikationstechnik ausgestattetFoto: Die Seenotretter - DGzRS / Thorsten EschstruthAlle Seenotrettungsboote sind wie alle DGzRS-Einheiten als Selbstaufrichter konzipiert und mit modernster Navigations- und Kommunikationstechnik ausgestattet

Die Namen der SRB stammen in den allermeisten Fällen von den Förderern, deren Spenden oder Nachlasse ihren Bau ermöglicht haben. Die „Wilma Sikorski“, Bj.1999, ist das Typboot der 9,5-m-Klasse, von der – gemeinsam mit der leicht vergrößerten 10,1-m-Klasse – aktuell 34 Einheiten im Dienst stehen. Die jüngste von ihnen, die „Courage“, wurde 2023 in Neuharlingersiel in Dienst gestellt. Sie sind wie alle DGzRS-Einheiten als Selbstaufrichter konzipiert und mit modernster Navigations- und Kommunikationstechnik ausgestattet. Geschwindigkeit: 18 kn; Reichweite bei 17 kn: ca. 240 sm.

  • 55 Stationen zwischen Borkum im Westen und Usedom im Osten
  • rund 20 Seenotrettungskreuzer und 40 Seenotrettungsboote
  • 1000 Seenotretter, davon mehr als 800 Freiwillige
  • einsatzbereit bei jedem Wetter, rund um die Uhr
  • Jahr für Jahr rund 2000 Einsätze auf Nord- und Ostsee
  • koordiniert durch die von der DGzRS betriebenen deutschen Rettungsleitstelle See in Bremen
  • seit der Gründung 1865 mehr als 86 000 Gerettete
  • finanziert ausschließlich durch freiwillige Zuwendungen, ohne Steuergelder
  • mehr Informationen: www.seenotretter.de, E-Mail: info@seenotretter.de

Hier finden Sie den zweiten und dritten Teil der Seenotretter-Reportage:


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