Demonstration gelungen: „Wer das nicht kennt und keine Übung hat, läuft hier schnell mal auf Grund oder landet auf einer Sandbank!“ Aus dem Fenster des Steuerhauses seines Fischkutters weist Kapitän Wilhelm Jacobs hinüber auf eine große Fläche mit gekräuseltem Wasser. An Deck schauen etwa 20 Männer und Frauen in die angezeigte Richtung. Dort liegt ein Flach gleich neben der Otzumer Balje, dem Den Blick voraus gerichtet, entdecken die Gäste das Watt mit all seinen Eigenheiten. engen Fahrwasser vor Neuharlingersiel. Mit ungeschultem Auge ist es kaum zu erkennen. Vorsichtig manövriert der Kutter entlang der Fahrwassertonnen, die sich im Gezeitenstrom neigen. Es ist kurz nach Niedrigwasser, viel Wasser ist noch nicht unter dem Kiel des schweren Schiffs. Das ist gewollt.
Die Teilnehmer des „Praxistrainings Wattenmeer“ sollen an diesem Tag das Gezeitengeschehen mit den sich verändernden Wasserständen und Strömungen miterleben, um damit vertraut zu werden. Veranstaltet wird der Kurs seit Jahren vom Landesverband Motorbootsport Niedersachsen (LM-N.DE). Gedacht ist er als niedrigschwelliger Einstieg für Freizeitskipper – ob Segler oder Motorbootfahrer –, die ein Gefühl fürs Wattenmeer bekommen möchten, bevor sie es selbst ansteuern.
Eigens für diesen Zweck wurde der Kutter „Gorch Fock“ in Neuharlingersiel gechartert. Sein Kapitän Wilhelm Jacobs ist mit der Fischerei aufgewachsen, er kennt das Revier wie seine Westentasche. „Wenn ihr in einem Fahrwasser wie hier mal noch nicht genug Wasser unterm Kiel habt, werft am besten rechtzeitig in noch tieferem Wasser den Anker und wartet ab“, rät er angesichts des Flachs den angehenden Wattfahrern. „Und wenn euch das Wasser wegläuft, erst recht!“ Jacobs wird im Lauf der nächsten Stunden noch viel von seinem Erfahrungsschatz an die Freizeitskipper weitergeben.
In der Theorie sind die schon gut vorbereitet. Am Vortag hat sie Kursleiterin Ute Gausmann über alles unterrichtet, was sie über Navigation und Seemannschaft im Gezeitenrevier der Deutschen Bucht wissen müssen. Auf elektronische Hilfsmittel hat sie dabei weitestgehend verzichtet, denn „die Teilnehmer sollen das Geschehen im Gezeitenrevier wirklich begreifen, um dort sicher navigieren zu können“, erklärt Gausmann. „Wenn plötzlich das Echolot gen Null geht, muss ich die Situation einschätzen können: Hat der Strom mein Boot versetzt, hat der Wind für einen niedrigeren Wasserstand gesorgt, oder bin ich einfach zu früh am Wattenhoch?“, beschreibt sie mögliche Szenarien. Nur dann lasse sich schnell entscheiden, was zu tun sei. „Ob ich den Kurs ändern oder ankern muss, sagt mir in so einem Fall keine App!“
Im Hauptberuf Lehrerin, hat Gausmann den Wassersportlern in der eintägigen Theorieeinheit den Umgang mit dem nötigen Handwerkszeug wie Gezeitenkalender, Karten und Vorhersagen erklärt und grundlegendes Wissen über die Navigation im Watt methodisch vermittelt: Wasserstände und Strom, mäandernde Sände und gelotete Tiefen, Windrichtung und -stärke. An der Tafel Berechnungsformeln, am Flipchart Kartentiefe, Lotung und Höhe der Gezeit.
Die vielen Variablen, die bei der Planung einer Wattfahrt berücksichtigt werden müsen, riefen bei den Teilnehmern einiges Stirnrunzeln hervor. Geduldig ging die Kursleiterin auf alle Fragen ein. Mit Erfolg: Schon am selben Nachmittag konnten alle berechnen, wie viel Wasser der Kutter am Sonntag vor Spiekeroog, Langeoog oder auf der Baklegde unter dem Kiel haben sollte.
Nun muss sich in der Praxis zeigen, ob die Berechnungen stimmen. Die ausgedehnte Kutterfahrt startet in Neuharlingersiel und führt durch die Priele der Otzumer Balje Richtung Spiekeroog und weiter ins Seegatt sowie nach Langeoog und Bensersiel. Das ist weit mehr, als ein Sportboot an einem Tag für gewöhnlich in diesem Revier im Kielwasser lässt.
„Wir können heute nicht auf einer der Inseln festmachen, sonst kommen wir später nicht mehr über den Prickenweg zurück“, weiß denn auch einer der Teilnehmer aus der Berechnung des Vortags zu berichten. Immerhin hat der Kutter einen Tiefgang von 1,50 Meter. So muss er nun im Wattfahrwasser angesichts des nahen Wattenhochs wenden und nimmt Kurs auf Spiekeroog.
Die Einfahrt in den kleinen Inselhafen macht einen kleinen Bogen und ist beiderseits mit Pricken markiert. Bei der Annäherung scheinen sie alle nebeneinanderzustehen, beinahe wie eine Hecke. An der Reling kneifen die wissbegierigen Passagiere die Augen zusammen – bis sich die scheinbare Reihe beim Näherkommen optisch auflöst. Einzelne Torpricken werden erkennbar, daneben grüne Tonnen: Aus dem Wirrwarr wird ein Weg. „Das muss man mal gesehen haben! Mit dem eigenen Boot hätte ich einen Moment lang Sorge gehabt, dass wir die Einfahrt verfehlen!“, raunt einer der Teilnehmer.
Weiter geht die Fahrt ins Seegatt zwischen Spiekeroog und Langeoog. Draußen die Nordsee, drinnen das Wattenmeer. Wer von einer Insel zur anderen fahren möchte, muss in den Gatten recht weit nördlich Richtung offene See steuern. Heute zunächst gegen den Strom. Kapitän Jacobs fährt ein wenig östlich, außerhalb des betonnten Fahrwassers. „Wir nehmen hier den Neerstrom mit. Das ist ein gegenläufiger Strom zur Hauptstromrichtung. Auf diese Weise müssen wir nicht so viel gegenan“, erklärt er. Und mahnt sogleich: „Wir wissen aus Erfahrung, dass es hier außerhalb des Fahrwassers tief genug ist. Man sollte das aber nie versuchen, ohne sich vorher erkundigt zu haben!“ Wenn der Wind gegen den Strom steht, kann sich in den Gatten eine veritable Welle aufbauen. Buhnen ragen weit in sie hinein. Neben dem Kutter lassen Strudel die Wasseroberfläche wie riesige, drehende Teller erscheinen; gut vorstellbar, dass es hier mitunter recht abenteuerlich zugehen kann und ein Sportboot schnell versetzt wird.
„Die Seegatten verändern sich ständig“, erklärt Jacobs, „jedes Jahr, teils sogar binnen weniger Wochen.“ Schon manches Boot haben er und seine Kollegen von der Sandbank gezogen.
Bei der Ansteuerung zum Langeooger Wattfahrwasser ändert er den Kurs gen Südwest. Der nun mitlaufende Strom lässt die Logge um zwei, drei Knoten hochschnellen – ein regelrechter Düseneffekt an der Kante des Seegatts. Auf einer Sandbank an Steuerbord dösen Robben, dahinter schäumt Brandung auf den Wellen, die von der offenen Nordsee anrollen. Sie scheinen zum Greifen nahe, trennen doch nur wenige Hundert Meter das Fahrwasser von den Sänden.
Am Tonnenstrich navigiert der Kutter sicher auf den Prickenweg zu. Zunächst nur schemenhaft heben sich die schmalen Birkenstämme vom trüben Himmel ab. Ihre Zweige weisen nach oben, das zeichnet sie als Backbord Pricken aus. Der Kutter aber hat sie an seiner Steuerbordseite. Ein Fahrgast ist für einen Moment irritiert: „Wenn wir durchs Gatt kommen, wäre das doch ‚von See kommend‘ und die Pricken müssten an Backbord liegen?“
Ute Gausmann hört diese Frage häufiger. Sie verweist auf das am Vortag in der Theorie Gelernte: „Erinnert ihr euch an die Pfeile mit roten und grünen Punkten in den Seekarten? Sie geben die Betonnungsrichtung an. Hier führt sie von West nach Ost.“ Reges Nicken; viel ist zu beachten bei der Wattfahrt.
Sedimentgetrübtes Wasser umströmt die Pricken. Alle an Bord wissen, dass es unter dem Kutter nun stetig flacher wird. Zu sehen aber ist davon nichts. „Ohne Echolot ist man hier echt aufgeschmissen“, stellt einer der Teilnehmer beim Blick über die Reling fest. Dass Ute Gausmann nicht übertrieben hat bei der Auflistung der nötigen Ausrüstung für die Wattfahrt – Anker, Wurfanker und Echolot etwa –, wird klar mit Blick auf das undurchsichtige Wasser. Es lässt auch die Frage aufkommen, wo man im Wattfahrwasser wohl am besten fährt: eher dicht an den Pricken oder in einem bestimmten Abstand?
Wo die Prickenwege am tiefsten sind, kann man nicht immer genau sagen“, erläutert der Kutterkapitän. „Aber es gibt eine Faustregel: Zur Seeseite – also dort, wo das Wasser aus dem Seegatt ins Wattgebiet einfließt – fällt die Kante oft steiler ab. Da findet man meistens das tiefste Wasser ganz nah an den Pricken.“ Weiter drinnen im Watt verlaufe dann der Priel oft flacher und breiter aus. „Dort sollte man eher etwas Abstand zu den Pricken halten, weil die tiefere Linie nicht direkt neben den Markierungen verläuft.“ Dort, wo die von beiden Seiten einlaufenden Strömungen aufeinandertreffen, fänden sich schließlich die flachsten Stellen im Watt, die sogenannten Wattenhochs.
An diesem etwas trüben Tag im April ist noch wenig los im Revier. Die Wattfahrwasser aber wirken recht schmal: Gut vorstellbar, dass es im Sommer eng werden könnte, wenn mehr Fähren und Wattsprinter die Inseln anlaufen, Segler und Motorbootfahrer sich an den Pricken entlangschlängeln und auch noch Fischer ihrer Arbeit nachgehen.
Soeben nähert sich ein anderer Kutter auf Gegenkurs. Etwa 100 seiner Art fischen noch aktiv im Wattenmeer, mit etwa 17 Meter langen Netzen, die seitlich mit gut zehn Meter langen Kurrenbäumen offengehalten werden. Entsprechend sollte genug Abstand von fischenden Kuttern gehalten werden.
Ob das passt im schmalen Fahrwasser? Doch der Entgegenkommer ist einer der zahlreichen Ausflugskutter mit Gästen an Bord. Die beiden Dickschiffe können einander bequem ausweichen, solange immer ein Auge auf das Echolot gerichtet ist. Obwohl beide mehr als vier Meter breit sind, tun sie dies in gehörigem Abstand; die Fahrwasser sind denn doch breiter als vermutet.
Kapitän Jacobs erklärt am Steuerstand stehend: „Gerade bei der Begegnung mit Fähren oder einem Kutter muss man immer genügend Distanz wahren. Sie verdrängen viel Wasser und erzeugen starke Sogwirkungen. Wir haben einmal erlebt, wie unser Kutter von einer vorbeifahrenden Fähre so stark angesogen wurde, dass wir beinahe kollidiert wären.“ Und das trotz vieler Tonnen Eigengewicht; wie es einem leichten Sportboot in solch einer Situation ergehen mag, ist leicht zu erahnen.
Am besten, so der Tipp des Kapitäns, verhalte man sich im engen Fahrwasser immer klar, indem man Kursänderungen rechtzeitig anzeige und Entgegenkommer möglichst beide nach Steuerbord auswichen. „Aber“, fügt der Profi augenzwinkernd an, „wer zu früh Platz macht, verleitet den anderen dazu, gar keine Kurskorrektur vorzunehmen.“
Geschützt von einer hohen Mauer mit breiter Öffnung, wirkt der Hafen von Langeoog großzügiger als der betuliche Inselhafen Spieker oogs. Doch an Steuerbord weisen auch hier Pricken in einem weiten Bogen den Weg. Der Hafenbereich dahinter unterscheidet sich jetzt, nahe Hochwasser, rein optisch nicht von dem davor. Er fällt aber bei Niedrigwasser hoch trocken – eine Eigenart der Inselhäfen.
Auf dem Rückweg wird noch kurz am Festland eine Runde durch den belebten Hafen von Bensersiel gedreht, ehe es übers Watt dicht unter Land zurück nach Neuharlingersiel geht. Zum ersten Mal während des Törns stehen auf den letzten Meilen Wind und Strom gegeneinander. Kurze, steile Wellen lassen den 15-Meter-Kutter gehörig rollen.
Kursleiterin Ute Gausmann findet das gut: „Es ist wichtig, dass die Teilnehmer sehen, wie schnell sich die Situation im Wattenmeer ändern kann. Sie sollen keine Angst bekommen, aber Respekt haben – und entsprechend vorbereitet sein.“ Die Rechnung geht auf. Gerade dreht sich eine Teilnehmerin zu ihr um und konstatiert: „Das könnte hier mit unserem kleinen Boot wohl ganz schön ruckeln. Aber machbar ist es – und ja auch gleichzeitig spannend und schön!“
Im Gegensatz zu den meisten anderen Gezeitenrevieren verläuft in der Deutschen Bucht die Tide in Form einer gleich mäßigen Parabel. Das erlaubt eine komfortable Berechnung des Wasserstands für die einzelnen Stunden einer Gezeit mit einer Näherungsformel, der Zwölferregel. So funktioniert sie:
Zur empfohlenen Ausstattung für die Wattfahrt gehören:
Pricken kennzeichnen die schmalen Wattfahrwasser. Backbord-Pricken erkennt man an oben aufgefächerten Reisigbüscheln oder Zweigen. Steuerbord-Pri-cken haben ein nach unten aufgefächertes Reisigbüschel. Zwei Pricken dicht nebeneinander stehen auf einem Wattenhoch, drei beieinander bezeichnen jeweils den Anfang und das Ende des Prickenwegs.
Mit dem richtigen Schiff kann man problemlos im Watt trockenfallen. Dabei aber nachfolgende Punkte beachten:
Mehr zu den Befahrensregeln erfahren Sie hier.