Unbekannt
· 27.05.2019
Dieses Charterrevier ist einmalig. Zwischen stählernen Industriegiganten wachsen Natur und Kultur. Ein ungeschminkter Bericht aus dem Pott
Die Charterbasis, in der wir unser Schiff übernehmen, liegt in der Marina Rünthe in Bergkamen am Datteln-Hamm-Kanal. Am Hafen lädt eine Promenade mit Grünanlagen, Bänken und Gaststätten zum Bummeln ein. In der Marina haben etwa 300 Sportboote ihren Liegeplatz. Es gibt jeden Service rund ums Boot, bis hin zur Tankstelle und Fäkalienentsorgung, die Anlage ist sauber und gepflegt. Es riecht nach blühenden Linden und frisch geschnittener Hecke. Kaum noch vorstellbar, wie es hier bis in die Neunzigerjahre aussah: Der Rünthe-Hafen war der Kohle-Umschlagplatz Nummer Eins im Ruhrpott. Von einer Halde, die hoch war wie ein mehrstöckiges Haus, schaufelten Bagger das schwarze Gold auf Schiffe, Güterzüge und Lkw.
Die Fassaden der Häuser waren pechschwarz, und keine Hausfrau wagte es, die Wäsche draußen auf die Leine zu hängen. Der alte Angler auf dem Steg sagt es mit seinen Worten: "De Nasenstein’ war’n immer schwarz un’ hart wie a Brikett".
Wir übernehmen unser Boot, eine Gruno 36 Compact Sport. Sie ist das neue Flaggschiff von Yachtcharter Knuth. Wohin steuert man während einer Charterwoche im Ruhrgebiet? Da wir das Revier überhaupt nicht kennen, folgen wir der Empfehlung des Vercharterers Michael Knuth: "Fahrt über Datteln-Hamm-Kanal, Dortmund-Ems-Kanal und Rhein-Herne-Kanal nach Westen, bis die Ruhr nach Südosten abzweigt und dann flussaufwärts, bis ihr die Villa Hügel der Familie Krupp seht."
Schon die Namen der Gewässer klingen nach Schwerindustrie, Koks und Stahl. Michael sieht meinen Blick und ergänzt: "Ihr werdet begeistert sein, wie grün es hier ist. Lasst euch überraschen vom Kulturkanal". Wieder fragende Blicke.
"Der Rhein-Herne- Kanal war die Schlagader des Kohletransports. Seit 2010 wird die Wasserstraße zum Kulturkanal umfunktioniert."
Gegen 16 Uhr lassen wir die Marina achteraus, neugierig auf das Ruhrgebiet. Wir folgen dem wie mit dem Lineal gezogenen Datteln-Hamm-Kanal nach Westen bis Datteln und biegen anderthalb Stunden später links ab in den Dortmund-Ems-Kanal. Unser Tagesziel ist das alte Schiffshebewerk Henrichenburg. Gegen 19 Uhr laufen wir in ein Hafenbecken ein, an dessen Ende ein alter Industriebau hoch in den Himmel ragt. Das Hebewerk?
Der nette Hafenmeister Roland Müller vom MBC Lünen nimmt die Leinen an, richtet die Fender und schreibt gerade die Quittung aus, als ich ihn frage, ob wir hier richtig vor dem alten Schiffshebewerk liegen. "Nee, hier war die alte Schachtschleuse. Wir sind der Motorboot Club Lünen. Wenn ihr vor dem Schiffshebewerk anlegen wollt, müsst ihr die nächste Einfahrt nehmen." Er reicht freundlicherweise das Liegegeld zurück und ruft hinterher: "Wenn da kein Platz ist, könnt ihr gerne zurückkommen."
Fünf Minuten später sind wir richtig. Vor uns wird gerade das Hebewerk aus dem Jahre 1899 mit Licht in Szene gesetzt. Wir nehmen den letzten freien Gastliegeplatz im Yachtclub Hebewerk Henrichenburg und sitzen so in erster Reihe, als die farbige Illumination des technischen Denkmals beginnt. Erst am nächsten Tag erfassen wir die Dimension des Schleusenparks Waltrop, der unter anderem aus folgenden Bauwerken besteht: Altes Schiffshebewerk Henrichenburg (1899–1966), Alte Schachtschleuse (1914–1989), Neues Hebewerk (1962–2005), Neue Schachtschleuse (seit 1989). Sämtliche Wasserbauwerke sind eingebettet in eine parkartige Landschaft mit Ausstellungsgebäuden und vielen technischen Spielereien für Kinder und Erwachsene. Für diese faszinierende Welt des Wassers und der Technik sollte man sich ruhig einen ganzen Tag gönnen.
Am späten Nachmittag legen wir ab und nehmen die Schleuse in Herne Ost. Eine Stunde später entdecken wir an Steuerbord den Stadthafen Recklinghausen und gehen als einziges Sportboot längsseits.
Der Hafen ist begrenzt durch eine drei Meter hohe Betonwand, auf der die Idylle einer Kleinstadt gemalt ist. Darüber thront die ausrangierte Verladetechnik vergangener Jahrzehnte, halb eingewachsen von Büschen und Bäumen. Am gegenüberliegenden Ufer wurde zwischen rostigen Stahlspundwänden goldgelber Sand aufgeschüttet – eine Beach Bar inmitten der Industrielandschaft.
Vom Stadthafen Recklinghausen läuft man etwa anderthalb Kilometer bis zum Wasserschloss Strünkede in Herne.
Wir steuern jetzt westwärts mitten durch den Pott und haben als Tagesziel die Marina Oberhausen angepeilt.
Eingefasst in Stahlspundwänden, trägt uns der Rhein-Herne-Kanal unter zig stählernen Brücken hindurch. Alte, rostige Fachwerkbauten aus genietetem Stahl werden durch moderne, futuristische Designerbrücken aus V4A abgelöst. Sie folgen so dicht hintereinander, dass sie sich mancherorts gegenseitig durchdringen. Dazwischen am Kanalufer stählerne Roboter, die Schüttgut oder Schrott aus Schiffsrümpfen laden. Güterzüge donnern vorbei.
Zwischen Containerschiffen, Tankern und Frachtern voller Steinkohle, Koks und Stahl geht es nach Westen, wo abends stets die Sonne glutrot über dem Kanal "verstaubt". Wenn dann noch Grönemeyer aus den Bordlautsprechern dröhnt, ist das Gänsehaut pur.
Die Einfahrt in die Heinz-Schleußer-Marina Oberhausen ist nicht zu übersehen. Sie trägt den Namen eines Lokalpolitikers, der den Strukturwandel hier maßgebend mitgestaltet hat. Wo einst die Schornsteine der Gutehoffnungshütte rauchten, wurde in den Neuzigern das Centro Oberhausen errichtet – die neue Stadtmitte. Mit über 250 Einzelhandelsgeschäften ist es heute das größte Shopping-Center Europas.
In unmittelbarer Nähe befinden sich eine Reihe touristischer Attraktionen: das Erlebnisbad AQUApark, das SEA LIFE Aquarium, die Ausstellungshalle Gasometer sowie das klassizistische Schloss Oberhausen mit der renommierten Ludwiggalerie. Die 2004 eröffnete Heinz-Schleußer-Marina liegt am nördlichen Ende dieses Gebietes. Die Anlage ist sehr gepflegt.
Einzig nervend fanden wir die sechsspurige A42 auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals. Den einheimischen Skipper unseres benachbarten Bootes aus Essen scheint das überhaupt nicht zu stören:
"Dat is dat Meeresrauschen im Pott".
Es gibt so viel zu entdecken, dass wir erst am folgenden Abend die Festmacher lösen und die Marina Oberhausen im Kielwasser lassen. Um nachts ruhiger schlafen zu können, suchen wir einen Liegeplatz ohne "Meeresrauschen". Den finden wir knapp fünf Kilometer weiter westlich im Oberwasser der Schleuse Oberhausen. Der kleine Anleger für etwa 20 Sportboote am grünen Südufer des Kanals trägt den großen Namen "Hafen Oberhausen".
Die Gastgeber lotsen uns zu einem freien Gastplatz, nehmen die Leinen an, hängen die Fender tiefer und überreichen die Schlüssel für das Eingangstor und die Sanitäranlagen. Wir fühlen uns sehr freundlich aufgenommen.
Charme und Ambiente dieser einfachen Anlage erinnern ein wenig an die kleinen selbstgebauten Bootsanleger in Mecklenburg kurz vor der Wende. Wir genießen die Stille des Liegeplatzes im Grünen und den Klönschnack mit den gastfreundlichen Bootsnachbarn beim Bier aus der Pulle.
Nach einer ruhigen Nacht ohne Autobahnlärm lassen wir uns in der Schleuse Oberhausen absenken. Jetzt sind es nur noch wenige Kilometer bis zum Rhein. Vor uns liegt Duisburg-Ruhrort mit seinen gigantischen Industrie- und Hafenanlagen.
Was sucht unsere winzige Nussschale in diesem Areal der Schwerindustrie? Zu unserer Erleichterung können wir links in die Ruhrmündung abbiegen und dann den Fluss bergauf steuern. Endlich Ruhe. Schiffe, Kräne und Kais bleiben achteraus. Nur die Kaskaden von Straßen- und Eisenbahnbrücken erinnern an die Nähe des Ballungsgebietes.
Die Ruhr, die dem Pott den Namen gab, wird immer schöner, je weiter wir bergauf fahren. Oberhalb von Mühlheim flankieren überwiegend Wiesen und Felder den Fluss.
Wir passieren die Schleuse Raffelberg und entdecken vier Kilometer weiter oben im Stadtzentrum von Mühlheim einen kleinen, aber sehr schönen Stadthafen, in dem kleine Wassertreter verliehen werden. Unsere Skipperin ist skeptisch, ob wir da überhaupt hinein passen.
Auf der Website der Stadt Mülheim an der Ruhr finden wir in der Beschreibung des Stadthafens, dass hier zwei Yachten bis 15 Meter Länge anlegen dürfen. Wir steuern im Schritttempo hinein und machen längsseits an der Promenade fest. Ringsum Cafés, Kneipen und urbanes Leben.
Weil wir noch die nächste Schleuse passieren wollen, legen wir nach einer halben Stunde wieder ab. Um 15.35 Uhr winkt uns der freundliche Schleusenmeister in die Schleuse Mülheim. Während er uns nach oben schleust, warnt er uns: "Es gibt gleich ein Unwetter mit Regen und Gewitter. Legt euch am besten gleich im Oberwasser links auf den Liegeplatz unserer Behörde." "Kriegen wir da Ärger?", fragen wir. "Nee, ich habe es euch doch eben erlaubt. Ärger gibt’s nur, wenn ihr gegenüber bei der Weißen Flotte anlegt. Die mögen das überhaupt nicht."
"Und in welchem Lokal wettern wir das Unwetter ab?" "Geht über die Schleusenbrücke rüber zu Franky’s Wasserbahnhof. Das ist die beste Adresse an der Ruhr."
Im prasselnden Regen rennen wir hinüber und entern die Cuba Bar in der ersten Etage des Wasserbahnhofs. Bei leckeren Mojitos beobachten wir, wie das Gewitter die Ruhr in Unruhe versetzt.
Am nächsten Morgen verlassen wir den oberen Schleusenkanal von Mülheim, an dessen Ufer das Erlebnismuseum Haus Ruhrnatur liegt. Dort können Kinder und Erwachsene mit Windrädern, Wasserturbinen und Sonnenkollektoren experimentieren, um von der Natur zu lernen.
Zwei Kilometer weiter bergauf passieren wir den Hafen des Motor- und Segelyachtclubs Mülheim a. d. Ruhr. Doch wir wollen möglichst noch heute die Villa Hügel zu sehen bekommen. Mittags nehmen wir deshalb die Schleuse Kettwig und lassen auch den einladend aussehenden Motorbootclub Kettwig 1965 links liegen. Gegen 14 Uhr erreichen wir dann bei Ruhr-Kilometer 25,7 den sehr schön gelegenen Essener Outboard Club und legen an einem freien Steg an.
Wir sind uns nicht sicher, ob es Sinn macht, über die Schleuse Baldeney noch weiter in den Baldeneysee zu fahren, an dessen Nordufer die Villa Hügel liegt, denn er darf nur mittig durchfahren werden. Gastliegeplätze gibt es nicht. Die Sportfreunde vom Outboard Club bieten eine praktikable Lösung an:
"Oben am See dürft ihr nirgendwo anlegen. Lasst euer Charterboot bei uns und nehmt ein Taxi. Dann kommt ihr heute noch in die Villa. Es sind nur fünf Kilometer".
Der Outboard Club hat Strom, Wasser und sanitäre Einrichtungen. Auf Empfehlung bestellen wir gleich nebenan im Landgasthaus Schevener Hof für den Abend einen Tisch auf der Terrasse mit Blick auf den Hafen.
Der Besuch der Villa Hügel bildet den geografischen und emotionalen Abschluss unseres Törns durch das Ruhrgebiet. Hoch über dem Baldeneysee gelegen, steht die Villa symbolisch für den Aufstieg der Familie Krupp und des gesamten Ruhrgebietes zum Zentrum der Schwerindustrie in Deutschland.
In einer eindrucksvollen Ausstellung erfahren die Besucher viel über 200 Jahre Industriegeschichte an der Ruhr. Im Jahre 1811 von Friedrich Krupp gegründet, wurde das Familienunternehmen mit den drei Ringen nach fünf Generationen und dem Tod von Alfried Krupp im Jahre 1967 vom Generalbevollmächtigten Bertold Beitz in eine Stiftung umgewandelt.
Schon 1953 öffnete die Familie Krupp ihren einstigen Wohnsitz für die Öffentlichkeit. Seitdem finden hier Ausstellungen statt. Obendrein war die Villa oft repräsentativer Raum für Künstler, Wissenschaftler und Staatsgäste – unter anderem für Andy Warhol (1972) und SED-Chef Honecker (1987).
Bei Schwäbischen Käsespätzle und einem Pfälzer Grauburgunder genießen wir abends den Blick von der Terrasse des Schevener Hofes auf den Hafen des Essener Outboard Clubs an der Ruhr.
Der mitten im Grünen gelegene, kleine Vereinshafen ist der schönste Liegplatz unserer Reise, die voller Eindrücke war.
Wir haben den weitesten Punkt unseres Törns erreicht und werden ein wenig Wehmut mit auf den Rückweg nehmen.
Dieser Bericht erschien in Boote 02/2018