Sören Gehlhaus
· 13.04.2023
Absolute ist eine Werft, die kaum etwas aus der Hand gibt und wenig dem Zufall überlässt. Schon gar nicht beim Flaggschiff. Als sportlicher Kreuzer erfüllt die Navetta 75 hohen Komfort- und Qualitätsanspruch.
Zum Cannes Yachting Festival gibt sich der Vieux Port wie ein Bienenstock, und im Innersten ist Absolutes Navetta 75 vertäut. Da gilt es, rechtzeitig alles für das Auslaufen vorzubereiten und die Verbindung zum Landstrom zu trennen. Dafür wird nicht einfach nur eine Klappe, sondern eine schmale schwarze Tür geöffnet, die Teil der Heckflosse ist. Ihr scharfkantiger Verlauf erinnert ein wenig an US-Straßenkreuzer und noch dazu zitieren Rippen das Art-déco-Thema. Praktisch und markant, das ist Absolutes Maxime seit jeher. Und nicht bloß das Heck schwört den Vergleich zur Straße herauf: Die Navetta 75 bildet auch aufgrund ihrer Breite, dem Innenraumvolumen und ihrer Kraftreserven ein maritimes Gegenstück zu Cadillac und Co.
Bereits am frühen Morgen bestimmt den Stadthafen von Cannes das übliche Messe-Gewusel aus ein- und auslaufenden Yachten. Noch dazu gilt es, das ständige Auf und Zu der Besucherbrücken richtig zu timen. Doch Cesare Mastroianni steuert das von zwei IPS-Einheiten angetriebene Flaggschiff souverän von der Fly auf das offene Meer hinaus. Mastroianni ist kein Werftkapitän, sondern der Vizepräsident und Chief Commercial Officer von Absolute. Auch das ist eine Art sympathischer Pragmatismus, der für die Werft aus dem Norden Italiens spricht. Der oberste Verkaufsleiter weist auf den Anlass für die Modellneuheit hin: das 20-jährige Markenjubiläum. Neben der Navetta 75 hält das Portfolio sechs weitere Sport-Kreuzer bereit, das nach unten hin ein 48-Fuß-Modell abrundet. Selbst die erst vor fünf Jahren vorgestellte Navetta 73 bieten die Italiener noch an. Mit den Serien Flybridge und Coupé kann bei der Werft aus Podenzano aus insgesamt 17 verschiedenen Yachten gewählt werden. Etwa 150 Kilometer nordöstlich von Genua fertigen 250 Mitarbeitende auf einer Fläche von 48 000 Quadratmetern bis zu 100 Yachten pro Jahr.
Alle Absolute-Bauten vereint eine kohärente Designsprache. Da sind die wechselweise klobig oder raffiniert anmutenden Rümpfe, die stets tiefe Kanten durchziehen und von Aufbauten gekrönt werden, die viele Fasen zeigen. Der Grund für diese Komplexität und Kontinuität: Der Chefgestalter heißt seit jeher Sergio Maggi. Er trägt den schönen Titel CDO, Chief Design Officer, und war 2002 einer der Werftmitgründer. In der 22,82 Meter langen 75 scheint die 73 durch, deren Rumpfform sie übernommen hat. Auch der Aufbau ist nahezu identisch. Die mit Lufteinlässen an die Flügel eines Jets erinnernde Form transferierten Maggi und sein Team für die 75 auch nach unten auf das Schanzkleid. Das ist für beste Sicht aus den bodentiefen Salonfenstern nach wie vor großzügig unterbrochen, setzt aber statt Reling auf ein strukturelles Element, das achtern im Bogen und dazu offen ausläuft. Diesen horizontalen Fluss betont die Fensterfront des Salons, die achtern nun kein seitliches Verbindungselement von Haupt- zu Flydeck mehr stört. Die Horizontalität unterstreicht ein scheinbar durchlaufendes Fensterband im Rumpf, das in Wirklichkeit nur eine schwarze Lackierung entlang der Unterdeckscheiben ist.
Eine weitere Besonderheit von Absolute: Im Gegensatz zu anderen italienischen Großserienwerften wird die Kompositfertigung der Rümpfe, Decks und Aufbauten nicht aus der Hand gegeben. Man laminiert ausschließlich im Handauflage-Verfahren und verstärkt die Glasfasern zum Teil mit Kevlar- oder Karbongelegen. Zeitgleich zum Rumpf entsteht der Innenausbau, der in Modulen in die fertige Schale gehievt wird. Die Produktion verfügt über ein zentralisiertes Luftabsaug- und Filtersystem, Roboter sorgen für den automatisierten Warenfluss aus dem modernen Hochlager heraus.
Wir sind auf dem Golf de la Napoule angekommen, der mäßig in Bewegung ist. Mastroianni bewegt den Geber in Richtung Horizont und siehe da: Es klappert absolut nichts, es sind weder Vibrationen zu verspüren noch störende Quietschgeräusche zu vernehmen. Auch nicht, als es steuerbords vom Steuerstand fünf Stufen hinab in den Eignerbereich geht, dessen Bad unmittelbar hinter der Vorpiek liegt und mit einer großzügigen Glasduschkabine ausgestattet ist. Auffällig am Bett ist der Rahmen aus hochglanzlackiertem Canaletto-Walnussholz, das auch innen auf Art déco verweist.
Aus dem Motorenraum geben zwei D13-Aggregate von Volvo Penta jeweils bis zu 735 Kilowatt Leistung an die zwei IPS-1350-Einheiten weiter. Bei der Probefahrt befanden sich zehn Personen an Bord und die Bunker waren jeweils mit 60 Prozent Diesel und Wasser gefüllt. Der Verbrauch betrug bei 1000 Umdrehungen und 8,3 Knoten sparsame 33 Liter Diesel pro Stunde. Wir loggten zwölf Knoten bei 1500 Umdrehungen und einem stündlichen Dieselfluss von 104 Litern. „Eine ökonomische Fahrt stellt sich bei 2000 bis 2200 Umdrehungen ein“, informiert Cesare Mastroianni. Unser Topspeed von 23,8 Knoten erforderte 360 Liter bei 2400 Umdrehungen.
Auf der Navetta 75 sind sowohl alle Außen- als auch Innenbereiche sehr gut zu erreichen. So gibt es von den breiten Laufdecks aus zwei Zugänge zur Brücke: backbords über die geschlossene Galley – die gibt es für den US-Markt natürlich auch als offene Variante – und über eine Tür gegenüber. Ebenso führen zwei Treppen, aus dem Cockpit und aus dem erhöhten Innensteuerstand, auf die Fly. Die Sonnenterrasse bedeckt fast zwei Drittel des Rumpfes und hält Extras wie Wetbar, Außenküche, Cabriodach oder ein nach achtern ausfahrbares Bimini bereit.
Den sicheren Gang auf das Unterdeck garantieren drei Handläufe zusätzlich zum Geländer der Treppe an Steuerbord des Salons. Unten führt vom Flur eine Tagestoilette ab, die auch die Zweibettkabine davor nutzt. An Backbord siedelte Absolute eine Doppelkabine, mittschiffs über die volle Breite von 5,61 Metern eine VIP-Suite an. Das Layout ist unverrückbar, auch der Innenausbau ist im Hinblick auf Hölzer (Walnuss und Ulme) und die Stoffe nicht individualisierbar. Das hat den Vorteil, dass Materialien leichter vorgehalten werden können – bei den derzeitigen Lücken in den Lieferketten ein nicht zu vernachlässigender Umstand. Hingegen haben Absolute-Eigner die freie Wahl beim losen Mobiliar und Bodenbelag.
Obwohl die Innenräume großzügig dimensioniert sind, fallen die Außenbereiche ebenso stattlich aus, vorn mit Portugieserbrücke und zusätzlicher Liegefläche davor. Und im Heck? Da gibt es nicht wie auf dem 2021 gezeigten Serien-Zugang Navetta 64 eine Gästekabine, sondern das für viele Navetta-75-Eigner absolut Notwendige: Crewquartiere. „Eine beliebte Konstellation für diese Größe ist ein Kapitän plus eine Deckshand“, beschreibt es Mastroianni in der ausgebauten Lazarette stehend. Da der Motorenraum im Vergleich zur Navetta 73 weiter vorn liegt, finden ganz achtern sogar bis zu drei Personen Platz. Und mit welcher Aussicht! Denn von der absenkbaren Badeplattform trennt die Besatzung lediglich eine Glasscheibe, die nach oben schwingt. Wenn der Tender hier parkt, ist der Blick natürlich getrübt. Alternativ belegen Beiboot oder Toys die hintere Flybridge, die dann um einen Davitkran erweitert werden muss.
Als die Ausfahrt ihr Ende nimmt, lässt es sich Cesare Mastroianni nicht nehmen, auch das römisch-katholische Einparkprozedere zu übernehmen. Dafür verholt sich der Absolute-CCO ins Cockpit und greift zum optionalen Joystick von Volvo Penta, der in die Wetbar an Steuerbord integriert ist und einen ausgezeichneten Überblick liefert.
Das Flaggschiff von Absolute legt für einen Startpreis von 3,5 Millionen Euro ab. Beim Vorführmodell addieren sich die Extras, zu denen auch ein Seakeeper-6-Kreiselstabilisator zählt, auf 4,3 Millionen Euro. Yachteigner sind in diesem Segment weitaus stärkere Diskrepanzen zwischen Grund- und Vollausstattung gewohnt. Zur Standardausführung der Navetta 75 zählt übrigens auch eine Außendusche. Und die findet ebenfalls in der aufklappbaren Heckflosse Platz, die zum Abschluss wieder mit Strom und Wasser gefüttert wird.