ReiseÅland-Inseln - Die friedlichen Inseln

Christian Tiedt

 · 29.05.2023

Typisch Skandinavien: mit Nachbarn an der Muringboje und Bug zum Steg. Längsseitige Liegeplätze, wie hier in Käringsund, sind die absolute Ausnahme im Revier. Wir haben es uns unten rechts bequem gemacht
Foto: Christian Tiedt
Von Stockholm nach Åland: In der zweiten Hälfte unseres Sommertörns mit dem Cruising Club der Schweiz erkunden wir den Archipel, der Schwedisch spricht, zu Finnland gehört und doch ganz eigen ist

Es wird Zeit für Åland! Die Route im Plotter ist eingegeben: Knapp 37 Seemeilen liegen vor uns. Von Öregrund in Schweden aus, wo wir pünktlich um 11 Uhr die Moorings slippen, läuft die „Rolling Swiss 2“ zunächst im Schutz der Insel Gräsö auf dem Weg zurück, den wir gestern gekommen sind. Es geht nach Südosten und dann auf Westkurs zwischen den Leuchtfeuern auf dem Vässarögrund, auf Kofoten und Skogsskär hindurch auf das offene Meer. Vor uns liegen das Ålandshavet und – noch unter dem Horizont – die Inseln, die diesem Seegebiet der Ostsee den Namen gegeben haben. Sie werden das Revier für den zweiten Teil unseres Sommertörns mit dem Cruising Club der Schweiz sein.

Die letzten Schären bleiben zurück. Doch das Wetter zieht mit uns, dunkle Schichtbewölkung, nur mit vereinzelten Lücken. Etwa auf halber Strecke erwischt uns ein schwerer Schauer. Wenigstens hält sich der Wind wie vorhergesagt in Grenzen, mehr als drei Beaufort sind es nicht. Die Dünung aus Süden sorgt aber trotzdem dafür, dass unsere Trader 42 ordentlich rollt. Da ich nicht gebraucht werde, lege ich mich in die Koje und merke erst, dass ich eingeschlafen bin, als ich eine gute Stunde später wieder aufwache. Noch immer ist Bewegung im Schiff, auch wenn draußen schon die ersten rötlichen Felsen vorbeiziehen. Vor uns erstreckt sich der weite Husfjärden und die niedrige, dunkle Silhouette der Insel Eckerö im Westen Ålands. Doch der Fähranleger recht voraus ist nicht unser Ziel.

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Wir schwenken leicht nach Backbord und halten auf die Einfahrt zum Naturhafen von Käringsund zu. Der gilt laut unserer Buchungs-App Dockspot als „die Perle der Ostsee“. Entsprechend ist der Preis angesetzt: 88 Euro. Unser Platz ist dafür reserviert, nicht an den Heckbojen am Holzsteg, der sich an den Uferfelsen entlangzieht, sondern längsseits an einem soliden Betonschwimmsteg. Die Kulisse an Land bilden Kiefern, rote Hütten und Bootshäuser. Skandinavien wie im Bilderbuch. Direkt gegenüber hat eine große Grand Banks aus Espoo an der finnischen Südküste festgemacht. Und nach dem Schild an der Einfahrt zur Bucht („Välkommen till Käringsundet“) werden wir jetzt von der Flybridge des Trawlers auch persönlich begrüßt, überraschend mit einem Grüezi. Das Schweizerkreuz an unserem Heck sorgt nicht zum ersten Mal für Aufmerksamkeit.

Åland feiert 100 Jahre Autonomie

An Land ist eine ganze Menge los, auch deshalb, weil sich gleich in der Nähe ein Campingplatz im Wald versteckt. Vor der Hafenbar Bodegan parken die Autos mit Åländer Nummernschild, die Terrasse am Wasser ist gefragt. Auf den Holztischen funkeln die Bier- und Weingläser wie Edelsteine in der Sonne. Darüber weht eine Flagge mit der Aufschrift „100 År“ – in diesem Sommer feiern die Inseln einhundert Jahre Autonomie.

Ein wahrer Segen, denn die strategische Lage im Herzen der Ostsee wurde den Bewohnern Ålands immer wieder zum Verhängnis. Nämlich dann, wenn die großen Mächte der Region Schweden und Russland Krieg führten. Auch die Engländer mischten sich gerne ein. Nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches und der finnischen Unabhängigkeit 1917 verhandelte der Völkerbund in Genf deshalb bald auch die „Ålandfrage“. Sie brachte dem schwedischsprachigen Archipel zwar den Verbleib bei Finnland, sicherte aber gleichzeitig dauerhafte Autonomie und Demilitarisierung zu. „Willkommen auf den friedlichen Inseln“ begrüßt ein Schild die Besucher.

Mit dem Fotorucksack geht es jetzt auf Landgang. Auf der Halbinsel, die die Bucht vom Meer trennt, informiert eine Tafel über die Geologie des Archipels. Wenn ich das Schwedisch richtig verstehe, lag die Inselgruppe vor 140 Millionen Jahren auf Höhe des Äquators. Korallenfossilien zeugen davon. Trilobiten bevölkerten damals das warme Meer. Auch wenn das lange her ist und tropische Breiten inzwischen weit entfernt, lassen sich Maggie und Lothar aus unserer Crew ein erstes Bad in der Ålandsee nicht nehmen. Zwischen zwei durchziehenden Regenbändern kommt aber tatsächlich nun die Sonne heraus und spendet beim Abtrocknen wohlwollend Wärme.

Weiter auf der Route

Wie angekündigt ist der Himmel wieder grau am nächsten Morgen. Da wird selbst die Perle der Ostsee stumpf. Unser Weg nach Südosten in die Hauptstadt Mariehamn soll durch den geschützten, schmalen Marsundet führen, der Eckerö von der Hauptinsel Fasta Åland trennt. Ein paar enge Fahrwasser haben wir zwar erwartet, aber nicht so etwas: vier versetzte Kardinaltonnen, dreimal Süd und einmal Nord, eine Denksportaufgabe in Gelb und Schwarz. Denn der jeweilige Abstand beträgt gefühlt nicht mehr als eine Bootslänge. Wir müssen aufstoppen, um die Stangen umkurven zu können. Da die Fahrrinnentiefe mit 1,80 Meter angegeben ist, bleibt nicht viel Spielraum. Navionics nennt die Stelle Näskatssundet. Der einzige andere Ort von nautischem Interesse ist die sieben Meter hohe, feste Brücke zwischen Alvarsholmen und Koholmen. Landschaftlich ist besonders der südliche Teil reizvoll, einmal mehr wie eine beschauliche Binnenfahrt.

Von Westen kommend treffen wir schließlich auf das Hauptfahrwasser zum Västerhamn von Mariehamn, den auch die großen Fähren benutzen. Die „Galaxy“ schiebt sich gerade von der Pier und läuft an uns vorbei aus Richtung Turku, Helsinki oder Stockholm, Skipper Marc kennt den Fahrplan. Nun ragen voraus die gelben Masten und Rahen der Viermastbark „Pommern“ auf – und dahinter liegen die Stege der Åländska Segelsällskapet. Als wir uns nähern, nimmt uns ein Schlauchboot der ÅSS in Empfang. Doch, doch, wir haben reserviert: Foxtrott One ist unser Platz und keine fünf Minuten später machen unsere Cummins-Zwillinge im Maschinenraum Feierabend. Wir liegen direkt unter dem überkragenden Schnitzgiebel des Clubhauses. Noch ist es bewölkt, doch der blaue Streifen am Horizont kommt näher.

Zuerst geht’s aber an Bord der „Pommern“, die zum Seefahrtsmuseum gehört. Die 120 Jahre alte stählerne Bark ist gut in Schuss, sogar barrierefrei. Der Frachtraum wurde zum multimedialen Sturmerlebnis umgestaltet, original Ballastsand gibt es in Flaschen abgefüllt im Shop zu kaufen. Dann ist das eigentliche Museum an der Reihe: Kapitänsbilder, Galionsfiguren und Schiffsmodelle, Lackiertes, Poliertes und Geöltes. Viele auch in Deutschland bekannte Namen: eine Pütz von der „Pamir“, der Steuerstand der „Passat“.

Dass man hier auf sie trifft, liegt an Gustav Erikson, dem König der Segelschiffe. Kaum ein Mann hat die Ålandinseln international so bekannt gemacht wie der Reeder aus Mariehamn. Als der Dampfer nach dem Ersten Weltkrieg endgültig über den Frachtsegler triumphierte, weil selbst die schnellsten der stolzen Großsegler nicht mehr mit den modernen Turbinen mithalten konnten, schlug er aus dieser Schwäche Kapital: Er kaufte reihenweise Segler zu Schleuderpreisen und setzte sie auf einer Strecke ein, wo es noch nicht so sehr um Geschwindigkeit ging – auf der Weizenfahrt nach Australien. So kreuzten viele der legendären ehemaligen Flying-P-Liner der Hamburger Reederei Laeisz auf ihre alten Tage unter der weißen Flagge mit den roten Initialen „GE“. Gleichzeitig trugen sie den Namen ihres neuen Heimathafens Mariehamn um die Welt. Diese Strategie machte Erikson zum reichen Mann. Viel davon gab er noch zu Lebzeiten an seine Geburtsstadt zurück. Die vier Toppen der „Pommern“ hoch über dem Hafen sind sein Denkmal.

Törnplanung beim Abendessen

Das Programm für die verbleibenden Tage der Reise zurren wir am Abend bei Pizza im Albin Café fest. Unser Vierertisch in der Abendsonne steht direkt am Wasser, nur wenige Schritte vom Boot entfernt. Morgen soll es noch einmal in die Schären gehen: Rödhamn ist das Ziel, dem Außenhafen der ÅSS. Danach folgen dann Degerby, Bomarsund und Kastelholm, bevor es noch einmal nach Mariehamn und dann in einem Rutsch zurück nach Stockholm gehen wird, dem Startpunkt unseres Törns.

Um 11 Uhr am nächsten Tag soll es weitergehen. Ich ziehe vorher noch mal los, die schattige Esplanade (zum frühen Heulen der Laubschneider) entlang in Richtung Österhamn. Holzhäuser links und rechts in Beige, Weiß und Grau. Skipper Marc meinte, das Stadtbild würde ihn an Jakutsk erinnern. Kein Wunder, schließlich gehörte Finnland zu Russland, als Mariehamns Straßenraster angelegt wurde – wie bei so vielen Städten in der Provinz des damaligen Großfürstentums im Zarenreich. Doch der Beweis der Eigenständigkeit liegt schon voraus: das stark an die Siebzigerjahre erinnernde Betonensemble von Parlament (Lagting genannt) und Regierungssitz. Eine schmale Wasserfläche davor wird flankiert von schlichten Kolonnaden. Auf den einzelnen Pfeilern sind Messingtafeln mit Schlüsselereignissen aus der Geschichte Ålands angebracht, von der Demilitarisierung nach Ende des Krimkriegs 1856 bis zur Mitgliedschaft im Nordischen Rat 1970.

Wir legen ab, verabschieden uns vorerst von der „Pommern“ und verlassen bald das Hauptfahrwasser der Ansteuerung und steuern Südsüdost auf dem Västerfjärden in die Schären hinein und erreichen so die Bucht von Rödhamn. Der Steg am Fels ist gut belegt, doch wir wollen ohnehin ankern. Ein wirklich schöner Ort, kein Zufall, dass die ÅSS hier ihre Flagge gehisst hat. Holzbuden am Wasser, sogar ein kleiner Badestrand. Auf dem felsigen Rücken der Insel erheben sich einige weiße Holzhäuser und eine der großen rechteckigen Richtbaken. Auf fünf Metern Wassertiefe fällt unser Eisen und ruckt nach zwanzig Metern Kette ein. Schnell wird das Dingi zum Landgang klargemacht.

Wir landen am Steg des sehr gechillten Inselcafés und schwärmen aus. Mein Weg führt hinauf zum alten Lotsenhaus auf dem höchsten Punkt der Insel und schließlich auf der anderen Seite wieder hinab zur Südküste, über rotes Geröll und durch flaches, trockenes Gestrüpp bis auf die sanft zum Ufer abfallenden, zerfurchten Granitplatten. Obwohl gerade völlige Einsamkeit herrscht, haben Vorgänger Spuren hinterlassen: Überall erheben sich kleine Steintürme. Weiter geht es nicht. Vor mir waschen die Wellen um den warmen Fels. Also strecke ich mich aus und ziehe den Hut übers Gesicht, bis irgendwann die Wolken kommen und es kühler wird. Ein wunderschöner Ort, der in Erinnerung bleiben wird.

Mit der Motoryacht durch die Schären

Mit schnurrenden Maschinen steuert die Motoryacht des Cruising Clubs am Folgetag um die Südspitze der Insel Lemland herum in den Ledfjärden und folgen ihm nach Nordosten, bis aus den unzähligen kleinen Schären die größeren, dicht beieinanderliegenden werden, die auf der Karte unter der Gemeinde Föglö zusammengefasst sind. Der Wind schiebt kühl aus Westen und schickt immer wieder Regenböen. Auf der heutigen Etappe legen wir einen Zwischenstopp ein: Degerbys kleiner gästhamn liegt gleich nördlich des Fähranlegers. Ob das der Grund ist, weshalb der Törnführer den Ort als „Mariehamn in Miniatur“ beschreibt, wird sich zeigen. Andere Parallelen sind vom Wasser aus erst einmal nicht auszumachen. Wir gehen an die Heckboje, die Sonne kommt heraus und lässt die Farben leuchten. Rote Häuser und grüne Gärten. Das Ausflugscafé serviert natürlich draußen unter dem Blätterdach hoher Eichen. Ein bärtiger Finne spielt auf seinem Achterdeck Shantys auf dem Schifferklavier, passend dazu läuft von irgendwoher eine Autofähre ein und bleibt dann, obwohl die digital angezeigte Abfahrtszeit von 13.55 Uhr schon längst wieder vorbei ist, erst einmal schläfrig am Anleger liegen. Leider folge ich der Dorfstraße nicht weit genug den Hügel hinauf bis zu dem Oldtimer- und Treckertreffen, von dem Maggie und Lothar später an Bord begeistert erzählen werden.

Weiter geht es nach Bomarsund. Der Törnführer und Wikipedia verraten uns, dass dieser auf der Karte kaum auffallende Wasserweg früher von so großer strategischer Bedeutung gewesen ist, dass der russische Zar dort eine riesige Festung zur Sicherung errichten ließ. Während des Krimkriegs, der selbst auf die Ostsee Auswirkungen hatte, wurde sie jedoch 1856 von einem britisch-französischen Geschwader mit zehntausend eingeschifften Soldaten erobert. Die Festungsanlagen wurden nach der Niederlage Russlands komplett geschleift, ein Neubau im Friedensvertrag verboten. Diese Ruinen sind heute noch zum Teil erhalten.

Auf dem weiten Ängholmsfjärden, mit der Insel Lumparland an Backbord, setzt die „Rolling Swiss“ ihre Fahrt nach Norden fort. Dabei passieren wir einen weiteren Anleger für die großen Fähren aus Schweden und Finnland, zusätzlich zu jenem in Mariehamn. Der Fahrplan ist auf ersten Blick kaum zu durchschauen, ebenso wie die Fahrtrouten der massigen Schiffe innerhalb des Archipels. Immer wieder tauchen sie hinter einer Insel auf, pflügen zielsicher mit fünfzehn Knoten durch die zum Teil recht engen Fahrwasser, um dann mit Hartruder um die nächste Ecke zu gehen.

Im Zentrum der Ålandinseln

Das Revier ist schön, sogar fast wild, von Zivilisation auf den vollkommen bewaldeten Inseln ist kaum etwas zu sehen. Keine Ferienhäuser, keine Wimpel, kein Vergleich mit den Schärengärten Stockholms und Turkus. Von Osten kommen wir über den Bussöfjärden auf den Lumparn, den rund fünf Seemeilen großen Binnensee im Zentrum der Ålandinseln, dessen annähernd runde Form vor etwa einer Milliarde Jahren von einem Meteoriteneinschlag geschaffen wurde. Von Westen ziehen nun schwere Regenwolken auf. An den dunklen Schleiern unter ihnen kann man sehen, dass es dort ganz schön schüttet. Könnte gut sein, dass wir uns pünktlich zum Anlegen in Bomarsund treffen.

Da die Brücke über die eigentliche Engstelle für uns zu flach ist, müssen wir noch einen kleinen Umweg fahren, den breiteren Prästösundet hinauf, wo eine Seilfähre den Straßenverkehr von einem Ufer ans andere bringt. Dabei behalten wir die Insel Prästö an Backbord, während sich an Steuerbord der Vargatafjärden öffnet. So passieren wir den Bomarsund ein zweites Mal, bevor wir von Norden kommend in die parallel liegende Notviken einlaufen. Hoch über uns ragt ein geschwungener Mauerrest auf. Unter Rundbögen schauen die schwarzen Schnauzen alter Kanonen hervor – ein erstes Anzeichen der alten Festungsanlage.

Die kleine Bucht ist wunderschön, viel schöner als erwartet. Auch hier zieht sich ein Holzsteg am Fels entlang. Nur die äußerste der etwa zwanzig Bojen ist noch frei, direkt neben einem kleinen finnischen Kajütboot. Perfekt für uns! Als wir fest liegen, kommt auch der erwartete Sommerschauer, dicht, mit großen Tropfen. Doch schon bald darauf glänzen die nassen Oberflächen von Fels, Steg und Deck wieder im Sonnenlicht.

An Land wird historischer Kurs eingeschlagen

Über einen Naturcampingplatz komme ich zur Hauptstraße, die über den Sund führt. Auf der flachen, nach Süden ausgerichteten Halbinsel stand einmal die Festung. Süden war die Richtung, aus der man die Schiffe möglicher Feinde erwartete. Dorthin richtete sich die halbkreisförmige Wehrmauer, gespickt mit Dutzenden schwerer Geschütze. Dass der Feind dann über Land von hinten kam, von der ungeschützten Seite, kann man als Ironie bezeichnen. Infotafeln zeigen die absurde Größe der Festung, Die nach der systematischen Zerstörung verbliebenen Mauersegmente ragen wie Felsen aus der Wiesenlandschaft. Zusammengefügt sind sie aus sechsseitigen Blöcken. Man ahnt, wie viel Knochenarbeit von sehr vielen Menschen geleistet werden musste, um das Bauwerk zu errichten. Und wie viel, um es nach kaum zehn Jahren wieder zu schleifen. Kein Wunder, dass die Menschheit als Ganzes nicht weiterkommt, wenn so viel Energie unterwegs verschwendet wird. Ein modernes Besucherzentrum stellt die historischen Zusammenhänge multimedial dar.

Bergauf geht es jetzt durch den Wald zum Notvikenstörnet, dem Turm, den wir bei der Ansteuerung gesehen haben. An schweren gegossenen Kanonenrohren, die den Doppeladler des Russischen Reiches tragen (ein schönes Symbol für die Vergänglichkeit politischer Ambitionen; vielleicht sollte sich der heutige Herrscher im Kreml ein Beispiel daran nahmen) kommt man zur kreisrunden Grundfläche des ehemaligen Turms, von dessen Mauern noch ein zweigeschossiger Abschnitt erhalten ist, dessen Kasematten samt Kanonen auf den Fjord hinausblicken. Ihr Zweck ist Geschichte. Die grandiose Aussicht ist geblieben.

Am nächsten Vormittag wird Prästö erneut umrundet, diesmal im Uhrzeigersinn, bevor wir zurück auf dem Lumparn sind. Abgesehen vom ersten Tag des Törns, als wir nur das kurze Stück von Stockholm nach Vaxholm zu meistern hatten, liegt heute auf dem Weg nach Kastelholm die mit 13 Seemeilen kürzeste Etappe vor uns. Viel passiert nicht, die Wolken bleiben dicht, auch wenn es – einmal mehr – später aufklaren soll. So zieht die „RS2“ eine knappe Stunde nach Westen, bevor wir vor der Insel Tingön nach Norden in den Slottsundet einfahren. Der Meeresarm windet sich weiter in die Landschaft hinein, einmal mehr fühlen wir uns an Binnenfahrt erinnert. Doch bald verschwindet der dichte Laubwald an Backbord, um Platz für einen der schönsten Golfplätze zu machen, die man sich als Nichtgolfer so vorstellen kann.

Im Hafen von Kastelholm

Nur eine letzte Biegung folgt noch, bis die ersten Stege des gästhamn sichtbar werden und schließlich die Mauern von Kastelholms Slott ganz am Ende der Bucht. Von Land winkt der Hafenmeister schon mit der Schweizerfahne. Wenigstens werden wir nicht negativ vom Preis überrascht: Der ist direkt am Steg angeschrieben. 66 Euro. Auch hier wären wir an der Heckboje deutlich billiger dran gewesen. Aber der Platz ist gut, im kleinen Café des Hafens sitzen Crews und Ausflügler unter großen Schirmen und im Hafen baden die Kinder. Da will sogar die Sonne nicht weiter Spielverderberin sein und zeigt sich endlich. Direkt oberhalb des Hafens hat man über einen Fußpfad Zugang zum Freilichtmuseum Jan Karlsgården. Historische Gebäudearten ganz Ålands geben sich hier so ungezwungen die Ehre, dass das Ensemble inmitten der hübschen Natur wie ein echtes Dorf wirkt. Bauernhöfe stehen hier, drei Windmühlen und ein Holzpferd, auf dem zwei blonde Kinder reiten. In der Mitte erhebt sich die noch immer bunt geschmückte majstång, der zu Mittsommer aufgerichtete „Blumenstamm“. Es ist erst zwei Wochen her, dass hier gefeiert wurde. Über eine Straße führt der Weg weiter zur Burg. Sie stammt aus dem Spätmittelalter und gehört zu den besterhaltenen Skandinaviens. Die Sonne brennt jetzt, im Schatten der hohen Mauern lässt es sich aber gut aushalten. Leider ist schon geschlossen, mit einem Besuch des kulturhistorischen Museums der Inseln im Inneren wird es also diesmal nichts.

Dafür sind im Hafen inzwischen die Saunas in Betrieb, immer wieder flitzen Kinder rein und raus, um dann vom Steg ins Wasser zu springen und sich anschließend wieder aufzuwärmen. Die Erwachsenen lassen sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen, man plaudert und gleicht dabei die abfallende Temperatur immer wieder durch Aufgüsse aus. So wird sehr entspannt geschwitzt.

Anschließend nutzen wir den Gästegrill am Hafen, denn wir haben noch Grillgut und Holzkohle an Bord. Über unsere Glut freut sich dann die nächste Familie. Maggie und Lothar zaubern einmal mehr. Es gibt Dorsch, gegrillt und dann mit Gemüse in Alufolie fertig gegart. Dazu Süßkartoffeln und Feldsalat. Während das Abendlicht die Landschaft vergoldet, lassen wir den Tag auf dem Achterschiff ausklingen. Unsere Zeit auf Åland geht dem Ende entgegen – und wir haben das gute Gefühl, wirklich das Beste daraus gemacht zu haben.

Das Ziel: Marienhamn

Als wir am Vormittag in Kastelholm die Leinen loswerfen und über den Slottsundet zurück auf den Lumparn steuern, ist das Ziel einmal mehr Mariehamn. Es soll unser Startpunkt für die Rückkehr nach Schweden werden. Sobald es das unstete Wetter zulässt, wollen wir von dort aus die direkte Passage nach Stockholm angehen. Unser Timing ist gut: Der frische Nordwest der letzten Tage soll nämlich demnächst eine Pause einlegen und dann für mehrere Stunden nur noch schwach umlaufen. Vielleicht schon morgen, vielleicht erst in der Nacht zu übermorgen. So oder so, wir wollen vorbereitet sein, wenn sich das Wetterfenster öffnet. Bis dahin weht es weiter, auch wenn man hier im Inneren von Åland davon kaum etwas merkt.

Erstes und einziges Nadelöhr des Tages wird der Lemströmskanal, die einzige künstliche Wasserstraße auf dem Archipel. Der nur einen knappen halben Kilometer lange Durchstich trennt die südliche Halbinsel Högskär von Fasta Åland und schafft eine direkte schiffbare Verbindung vom Önningbyfjärden, einer Bucht im Südwesten des Lumparn, zum Slemmern, an dessen Ostufer die Hauptstadt liegt. Gequert wird der Kanal von einer geschlossen nur 3,3 Meter hohen Drehbrücke. Die öffnet zur vollen Stunde und um nicht warten zu müssen, gibt Lothar zum ersten Mal auf diesem Törn richtig Gas. Knapp wird es trotzdem.

Zum Glück wartet vor der Kanaleinfahrt aber bereits eine ganze Flottille von Segelyachten, sodass es eine Zeit dauert, bis alle in Fahrt kommen, als die Ampel auf Grün springt. Wir schließen uns an. Zehn, zwölf Boote sind es auf beiden Seiten. Die uns Entgegenkommenden werden von der „Grand Lady“ angeführt, der Grand Banks, aus Espoo, die bei unserer Ankunft in Käringsund auf der anderen Stegseite lag. Doch diesmal sind wir vorbereitet und sind die ersten, die das Grüezi hinüberrufen.

Als wir den Kanal passiert haben, ist Mariehamn voraus bereits zu erkennen. Wir müssen aber noch ein Stück nach Süden, unter einer Brücke und zwischen den Inseln Styrsö und Nåtö hindurch zurück zur Hauptansteuerung. Bei strahlendem Sonnenschein laufen wir schließlich zu unserem Abschiedsbesuch ein. Vor der „Pommern“ schießen Jollen über das glitzernde Wasser, oben drehen Möwen ihre Kreise. Friedlicher könnte es kaum sein.


Törn-Etappen

  • 7. Öregrund (Schweden) – Käringsund (Åland): 36 sm
  • 8. Käringsund – Mariehamn: 33 sm
  • 9. Mariehamn – Rödhamn: 15 sm
  • 10. Rödhamn – Degerby (Zwischenstopp): 11 sm
  • 11. Degerby – Bomarsund: 17 sm
  • 12. Bomarsund – Kastelholm: 13 sm
  • 13. Kastelholm – Mariehamn: 18 sm
  • 14. Mariehamn – Stockholm (Schweden): 78 sm
  • 15. Stockholm
  • Gesamt (Teil 2): 221 sm

Wetter/Klima

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Unser Boot: Trader 42 (GFK-Halbgleiter) · Länge: 13,30 m · Breite: 4,30 m · Höhe: 3,80 m · Tief­gang: 1,20 m · Kojen: 6 (in 3 Doppel­kabinen) · WC/Dusche: 2/2 · CE-Kategorie: A · Motorisierung: 2 x 380 PS (Cummins-Diesel) · Besondere Ausstattung: UKW-Funkan­lage, Autopilot, Plotter mit Radar- und AIS-Overlay (aktiv und passiv), Generator, EPIRB, Bugstrahlruder, Dingi (15-PS) in Davits

Der Cruising Club der Schweiz (CCS): Der in Bern ansässige Zentralclub gehört mit rund 6500 Mitgliedern zu den größten Wassersportvereinen der Schweiz und nimmt bei der Hochseeausbildung eine Führungsposition in der Sportschifffahrt des Landes ein. Dabei bildet die Motorbootabteilung mit ihrer Yacht, die für Ausbildungs- und Reisetörns in Nord- und Westeuropa eingesetzt wird, eine eigene Untersparte. In der Saison 2023 führt das Törnprogramm von Kiel durch die Westliche Ostsee, Kattegat und Skagerrak über Kopenhagen, Göteborg und Oslo wieder zurück nach Kiel. www.ccs-motoryacht.ch

Nautische Informationen

Die Ålandinseln (finnisch: Ahvenanmaa) erstrecken sich über rund 90 km zwischen der Insel Eckerö im Westen und den Inseln Kökar im Südosten und Brandö im Nordosten. Insgesamt besteht der Archipel aus rund 7000 Inseln und Schären aller Größen, wobei die Hauptinsel Fasta Åland mit einer Fläche von etw 1000 km² rund zwei Drittel der Gesamtfläche ausmacht. Zum Vergleich: Die Insel Rügen umfasst etwa 900 km². Nur 60 Inseln sind dauerhaft bewohnt. Von den 30.000 Einwohnern lebt ein Drittel in der Hauptstadt Mariehamn. Die wichtigste Sprache ist Schwedisch. Trotz ihrer Zugehörigkeit zu Finnland verfügt sie über weitgehende Autonomie. Zur See drückt sie sich durch die eigene blau-gelb-rote National- und Handelsflagge aus.

Die Navigation: Wie in anderen Schärenrevieren der Ostsee auch, zeichnet sich die Inselgruppe durch ein weitgehend flaches Höhenprofil und viele untiefe Stellen auch in weiterer Entfernung von der Küste aus. Die sichere Navigation setzt also immer eine genaue Standortkenntnis voraus. Während die Infrastruktur an Land gut ist, sind nur wichtige Fahrwasser und besonders kritische Stellen betonnt. Generell werden Fahrwasser dagegen durch Leuchtfeuer bezeichnet, wobei die meist weißen Türme bei Tag als zusätzliche Landmarken dienen. Für SAR-Aufgaben sind die Ålands Sjöräddningssällskap (sjoraddningen.ax) und die finnische Raja (Küstenwache; www.raja.fi) zuständig.

Literatur

Küstenhandbuch: „Ostsee. Deutschland, Dänemark, Schweden, Finnland, Russland, Baltikum, Polen“. Format: 21,8 x 30,4 cm, gebunden, 484 S., 704 Fotos und Abbildungen. ISBN 978-3-667-11846-2. Preis: 69,90 €. www.delius-klasing.de

Hafenhandbuch: Suuri Satamakirja II - The Great Harbour Book II: „Ahvenanmaa – Åland“. Format: A4, spiralgebunden, 208 S., farb. Luftaufnahmen von Häfen und Buchten mit Ansteuerungen und Tiefenangaben. Preis: 81 €. Bezug über www.hansenautic.de

Sportbootkarten: Finnischer Sportbootkartensatz C „Ahvenanmaa – Åland“. Format: 64 x 42 cm, spiralgebunden in Klarsichthülle. 2 Übersegler, 43 Detailkarten (1:50 000), auch in Englisch. Deckt das gesamte Gebiet des Archipels ab. Anschluss an die Turku-Schären (Satz D) Preis: 58 €. Bezug über www.nvcharts.com


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