Jill Grigoleit
· 04.01.2023
Zum Saisonausklang zeigt sich das Seenland in seiner ganzen Pracht. Mit dem Charterboot entdecken wir die Mecklenburgische Kleinseenplatte Ende Oktober neu – mit kurzen Tagen, leeren Häfen und ohne Schlangen vor den Schleusen. Ein Törn, der im Sommer beginnt und im Herbst endet
Vor rund 12.000 Jahren schob sich eine mächtige Gletscherfront von Skandinavien bis ins heutige Mecklenburg. Als sie schmolz, hinterließ sie ein atemberaubendes Naturparadies, bestehend aus tausenden Seen, eingebettet zwischen bewaldeten Hügeln und weiten Feldern. Das Kleinseenland im Süden Mecklenburg-Vorpommerns und im Norden Brandenburgs ist durchzogen von etlichen Kanälen, welche die Seen wie auf einer Perlenschnur miteinander verbinden. Ein Eldorado für Sportbootfahrer – vor allem im Sommer. Wenn sich die Saison dem Ende neigt, kehrt langsam Ruhe ein. Auf unserem letzten Törn der Saison lassen wir die Müritz und das Großseenland im Nordwesten ausnahmsweise links liegen und begeben uns auf eine herbstliche Entdeckungsreise durch das schier endlose Wasserlabyrinth zwischen Mirow, Rheinsberg und Fürstenberg.
Rotbraune, gelbe und ockerfarbene Tupfer und dazwischen alle Nuancen von Grün säumen das Ufer der Steinhavel. Die tief stehende Sonne lässt den Wald in satten, warmen Farben leuchten und die Szenerie wie gemalt erscheinen. Keine andere Jahreszeit taucht die Natur in ein so goldenes Licht wie der Herbst, wenn sie sich vor dem Verblühen noch einmal in voller Farbenpracht zeigt. Es duftet nach feuchtem Laub und Holz, als wir auf die nächste Biegung zusteuern, hinter der uns der verlassene Wartebereich der Schleuse Steinhavel erwartet.
Im Sommer reiht sich hier ein Boot hinter das nächste. Lange Wartezeiten gehören im beliebtesten Charterrevier Deutschlands nun mal dazu. Heute jedoch fahren wir direkt zum Anforderungshebel ganz nach vorne und warten darauf, dass sich die Tore nur für uns öffnen. Die Schleuse bei Kilometer 64,6 der Oberen Havel-Wasserstraße liegt in einem kaum verbauten Abschnitt der Havel zwischen Menowsee und Röblinsee. 1840 wurde die Steinhavel schiffbar gemacht und die erste Schleuse gebaut. Nachdem sie im vergangenen Jahr komplett erneuert und auf elf Meter verbreitert wurde, passen nun zwei- bis dreimal so viele Boote hinein wie in die alte Kammer. Eine große Entlastung für die viel befahrenen Gewässer zwischen Berlin und der Müritz.
Während wir auf das Einfahrtssignal warten, hören wir das Laub im Wald fallen, so still ist es. Der zerfallene Zustand des alten Mühlengebäudes und des Rieselspeichers am linken Ufer trägt sein Übriges zur einsamen Atmosphäre bei. Es fühlt sich an, als wären wir ganz allein so spät im Jahr noch unterwegs. Ganz so ist es natürlich nicht. Hier und da begegnet uns noch ein Charterboot oder Abenteuerfloß. Einer der Vorteile eines Herbsttörns sind die wesentlich kürzeren Wartezeiten an den vielen Schleusen. Doch wie wir schnell feststellen, schaffen wir deshalb nicht unbedingt mehr Strecke. Die Tage sind einfach schon zu kurz. Schon gestern haben wir unseren Zielhafen gerade noch im letzten Licht erreicht, und vergangene Nacht wurde die Uhr nun nochmals eine Stunde zurückgestellt. Um spätestens 16:45 Uhr, zum Sonnenuntergang, müssen wir also beim Yachtclub Fürstenberg, unserem heutigen Etappenziel, festgemacht haben.
Mit Beginn des Novembers schließen viele Schleusen zudem bereits um 15:45 Uhr. Das bedeutet weniger Fahrtzeit. Außerdem haben viele Häfen ihren Service auf ein Minimum reduziert. Dafür ist einem der Liegeplatz an den fast leeren Stegen sicher.
In den wenigen Stunden, in denen die Sonne scheint, gibt sie aber noch mal alles. Es ist Ende Oktober, und wir sitzen bei über 20 Grad mit offenem Verdeck und ohne Jacken an Deck. Ein goldener Herbst wie aus dem Bilderbuch. Wie ein bunter Teppich hat sich das Laub auf die spiegelglatte Wasseroberfläche gelegt.
Von der Marina Eldenburg, der Basis von Yachtcharter Schulz, sind wir vor einigen Tagen mit einer Gruno 41 Excellent in Richtung Südosten gestartet und haben die Müritz überquert, um auf unserem letzten Törn der Saison die ursprüngliche Landschaft und die Kanäle der Kleinseenplatte zu erkunden. Unser erstes Etappenziel des Törns ist Rheinsberg. Im Gästehafen des Hafendorfs Rheinsberg, mit seinem rot-weiß gestreiften Leuchtturm und den bonbonbunten Ferienhäusern am Wasser, haben wir mit unserem schiffigen Stahlverdränger freie Platzwahl. Von hier aus bringt uns ein halbstündiger Fußmarsch durch ein kleines Waldstück und entlang der Uferpromenade bis ins Zentrum.
Bekannt ist der Erholungsort am Grienericksee vor allem für sein am Seeufer gelegenes Schloss. Die Residenz diente Friedrich dem Großen als Modell für die spätere Gestaltung des Schlosses Sanssouci in Potsdam. Seine jungen Jahre auf Schloss Rheinsberg bezeichnete der Alte Fritz später immer als die „glücklichsten seines Lebens“. Bis zur Enteignung durch die sowjetische Besatzungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte es dem Haus Hohenzollern. Es war öffentlich zugänglich und machte Rheinsberg zu einem beliebten Touristenziel.
Nicht unerheblich an seiner Beliebtheit beteiligt waren dabei die Schriftsteller Theodor Fontane und Kurt Tucholsky. In seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ setzte Fontane der Stadt ein erstes literarisches Denkmal. Er schwärmte von den Schlössern, Orten und Landschaften der Gegend, die ihn später zu seinen berühmten Romanen Effi Briest und Der Stechlin inspirierten. Schon damals stand Rheinsberg für Romantik und Genuss. Wie Fontane vor knapp 160 Jahren lassen wir uns am Abend im Ratskeller eine typisch brandenburgische deftige Mahlzeit schmecken.
Neben Fontane hinterließ auch Kurt Tucholsky mit seiner Erzählung „Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte“ eine Liebeserklärung an die kleine Stadt, deren Charme noch immer wirkt. Das Tucholsky-Museum im Schloss lässt Literatur-Fans in das Leben des Autors eintauchen, der mit eben diesem Werk 1912 sein literarisches Debüt gab. Daneben beherbergt das Schloss heute das Schlosstheater und die Musikakademie. Regelmäßig finden hier kulturelle Veranstaltungen statt.
Bei einem Spaziergang durch den herbstlich bunten Schlossgarten mit seinen Statuen, Grotten und von Hecken umrahmten Wegen, kann man sich leicht vorstellen, was die Dichter hier inspirierte: „Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert – und doch alles“, schrieb Tucholsky. Kein Wunder, dass man beim Wandeln durch den Lustgarten schnell mal die Zeit vergisst. Doch die bereits mittags langen Schatten erinnern uns daran, wie wenig Tageslicht und damit Fahrtzeit uns bleibt. Also brechen wir auf: 34 Kilometer und vier Schleusen liegen heute noch vor uns. Wir überqueren die Perlen der Rheinsberger Seenkette: den Rheinsberger See, den Schlabornsee und den Tietzowsee. Die unberührte Landschaft erinnert mitunter an Kanada oder Skandinavien. Hier und da ein einsamer Steg oder ein Bootshäuschen, ansonsten nur Schilf und dichte Wälder, wohin das Auge blickt.
Nachdem wir die Schleuse Wolfsbruch passiert haben, geht es entlang der Landesgrenze weiter über den Ellbogensee. Das Nordbecken von Westen bis Priepert ist Bestandteil der Müritz-Havel-Wasserstraße, die hier mit km 0 in die Obere Havel-Wasserstraße einmündet. Am späten Nachmittag erreichen wir gerade noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit den Yachtclub Fürstenberg und entscheiden uns dafür, das Städtchen mit dem stolzen Beinamen „Deutschlands einzige Wasserstadt“, erst am nächsten Tag zu erkunden.
Am Morgen werden wir vom Schrei vorbeiziehender Wildgänse und dem leisen Tuckern eines kleinen Anglerbootes geweckt. Vom angesagten Frühnebel keine Spur. Stattdessen kündigt ein grandioser Sonnenaufgang über dem Schwedtsee einen weiteren sonnigen Tag an. Der mittelalterliche Stadtkern Fürstenbergs liegt auf drei Inseln zwischen Röblinsee, Baalensee und Schwedtsee. Zusätzlich durchfließt die Havel das Stadtgebiet in vier Läufen. Zu allen Seiten ist das kleine Städtchen umgeben von kristallklaren Badeseen und ursprünglichen Wäldern. Kein Wunder also, dass die Gegend besonders bei Wassertouristen hoch im Kurs steht.
Die kleine Stadt im Norden Brandenburgs profitiert von seiner einzigartigen Lage. Nur 80 Kilometer nördlich von Berlin gelegen, bietet sie für viele Großstädter die ideale Ausgangsbasis für Natur- und Erlebnisurlaube. Abgesehen vom Marktplatzensemble mit der neogotischen Stadtkirche gibt es aber in der Stadt selbst nicht viel zu sehen. Nach einem kurzen Spaziergang geht es für uns deshalb auch wieder aufs Wasser.
Unsere nächste Etappe führt zurück über den Röblinsee in Richtung Nordwesten. Heute liegen 37 Kilometer bis Mirow vor uns. Da wir früh aufbrechen, sind wir guter Dinge, die Strecke bei den leeren Schleusen locker bis Sonnenuntergang zu schaffen. Doch als wir gegen Mittag auf den Ziernsee hinausfahren, zieht schlagartig doch noch der angekündigte Nebel auf. Von einer Minute auf die nächste ist die Sicht so eingeschränkt, dass die Ufer nur noch schemenhaft zu erkennen sind. Wir müssen die Geschwindigkeit anpassen und geben alle paar Minuten ein Schallsignal. Keine Antwort. Es herrscht gespenstische Stille. Alles wirkt wie in Watte gepackt. Bei der Geschwindigkeit könnte es doch noch knapp werden. Vorsichtig tasten wir uns weiter.
Umso erleichterter erreichen wir kurz nach 16 Uhr die kleine Marina Bootsservice Rick auf der Mirower Schlossinsel. Es ist Halloween, und passender könnte eine Szenerie am Vorabend von Allerheiligen kaum sein: In der Dämmerung erscheint das Gebäudeensemble der Insel wie aus einem Hitchcock-Film. Krähen fliegen um den Glockenturm der Johanniterkirche aus dem 13. Jahrhundert, zu der auch die Familiengruft des Strelitzer Herzogshauses gehört. Für eine Besichtigung des barocken Schlosses und des gegenüberliegenden Kavaliershauses, heute Drei-Königinnen-Palais genannt, sind wir leider zu spät. Doch auch von außen lohnt sich ein Blick auf das aufwendig restaurierte Schloss, in dem drei berühmte Prinzessinnen, die zu bedeutenden europäischen Königinnen wurden, ihre Kindheit verbrachten.
Etwas versteckt hinter dem Schloss führt eine schmiedeeiserne Fußgängerbrücke zur nebelverhangenen „Liebesinsel“, die die Ruhestätte des letzten regierenden Großherzogs von Mecklenburg-Strelitz beherbergt. 1918 nahm sich Adolf Friedrich VI. hier das Leben, nachdem er sein Grabmal zuvor selbst entworfen hatte. Eine abgebrochene Steinsäule versinnbildlicht sein frühes Ableben. Die genauen Umstände seines Todes blieben jedoch bis heute ungeklärt und sind Gegenstand von Spekulationen und Verschwörungstheorien. Auch diese schaurige Geschichte passt irgendwie zu Halloween.
Genug gefröstelt, entscheiden wir, und machen uns auf den Rückweg zu unserer einladend beleuchteten „Juliet“, die mit ihrem großzügigen und gemütlichen Salon auf uns wartet. Ein nicht unerhebliches Detail, wenn man zu dieser Jahreszeit mit dem Boot unterwegs ist. Das gilt natürlich auch für die leistungsstarke Heizung an Bord. Als wir zurück an Bord sind, ist es gerade einmal 17 Uhr und bereits stockdunkel. Zeit für ein gutes Buch – oder einen Filmabend. Bei Amazon Prime gibt es „Die Vögel“...
Als wir aufwachen, hat sich der dicke Nebel glücklicherweise verzogen. Dafür ist es, als hätte sich über Nacht ein grauer Schleier über alle Farben gelegt. Es ist merklich kälter geworden. Der November hat das Zepter übernommen, nicht nur auf dem Kalenderblatt. Auf unserem Weg zurück durch den Mirower Kanal gen Norden zeigt sich der Herbst von seiner tristen Seite. Die perfekte Tarnung für den Graureiher, der am Ufer staksend auf ein Frühstück hofft. Wollene Rinder stoßen Atemwölkchen aus, in den kahlen Uferweiden sitzen krächzende Krähen. Nur wenige Tage waren wir unterwegs. Und doch fühlt es sich an, als wären wir im Sommer losgefahren und im Winter zurückgekehrt. Es ist der Reiz des Einsamen, der Stille, der einen Herbsttörn ausmacht. Das letzte Aufbäumen der Natur vor dem verdienten Winterschlaf. Überall liegt ein Hauch von Abschied in der Luft.
S Marina Eldenburg (Charterbasis) – Waren: 2 km
Z Marina Eldenburg
Gesamtstrecke: 168 km
Törnführer „Von Berlin zur Müritz. Mit Mecklenburger Kleinseenplatte“ von Bodo Müller. 6. Aufl. 2016; 96 Seiten, 25 Pläne, gebunden; 34,90 €. ISBN 978-3-667-10440-3. www.delius-klasing.de
Gewässerkarten „Binnenkartenatlas 2: Mecklenburgische Seenplatte“, Format A3; 31 Karten (1:40000), 24 Detailkarten, ringgebunden; 39,90 €. ISBN 978-3-944082-14-1. www.kartenwerft.de
UNSER BOOT: Gruno 41 Excellent (Stahlverdränger) · Länge: 12,50 m · Breite: 3,95 m · Tiefgang: 1,00 m · Motor: Diesel (90 PS) · Kojen: 6 (3 Doppelkabinen) · WC/Dusche: 2/2 · Ausstattung: Bug- und Heckstrahlruder, Fernseher (DVB-T), 110-l-Kühlschrank, Mikrowelle, Heizung usw. · Wochenpreise: je nach Saison von 2500,40 bis 3051,40 €.
CHARTERN: Unseren einwöchigen Chartertörn absolvierten wir mit einer Gruno 41 Excellent von Yachtcharter Schulz (s. oben). Die Firma gehört zu den größten Anbietern im Nordosten und verfügt derzeit über ein Netz von fünf Stützpunkten im Binnenbereich und an der Boddenküste, zwischen denen auch Einwegfahrten möglich sind. Dazu kommt eine Basis in Polen (Masuren). Start- und Zielort war in unserem Fall die Marina Eldenburg bei Waren. Auch das Revier der Mecklenburgischen Oberseen oder Kleinseenplatte lässt sich in dieser Zeit gut erkunden; auch für längere Törns gibt es Ziele. Information: Yachtcharter Schulz. An der Reeck 17, 17192 Waren/Müritz, Tel. 03991/12 14 15. www.bootsurlaub.de