ReportageThe Grand Canal - Erie Canal in New York

Christian Tiedt

 · 10.04.2023

Dort, wo der Kanal die Niagara-Stufe überwin-det, entstand der Ort Lockport. Rechts Teil der alten Schleusentreppe, die wegen ihrer fünf Kammern Lockport Five genannt wurde, links das neuere Schleusenpaar
Foto: Morten Strauch

Bei seiner Eröffnung 1825 galt er als „achtes Weltwunder“ – und noch immer durchquert der Erie Canal den ganzen Bundesstaat New York

Wolken von Moskitos hüllten die Männer ein und stürzten sich gierig auf jeden Fleck ungeschützter Haut. Es war so heiß, dass die Hemden am Rücken klebten. Noch vor wenigen Wochen hatte ein später Blizzard das Land mit meterdickem Schnee zugedeckt. Trotzdem schleppte die kleine Gruppe ihre Äxte und Theodoliten durch den dichten Wald aus Schwarzbirken und Hemlocktannen, vermaß das sumpfige Gelände und zeichnete Karten.

Was Benjamin Wright und seine Helfer in diesem Frühsommer des Jahres 1816 in die unzugängliche Wildnis im Norden des amerikanischen Bundesstaates New York trieb, war die Furcht der Landesväter, innerhalb der noch jungen Vereinigten Staaten wirtschaftlich abgehängt zu werden.

Politisch beherrschten Schwergewichte aus dem Süden das Bild. Männer wie George Washington oder Thomas Jefferson, die die weitere Ausdehnung der Nation nach Westen und den zu erwartenden Handel nur zu gerne durch ihre Heimat Virginia lenken wollten. Das riesige New York grenzte zwar im Norden an die Großen Seen, die diese Erschließung ebenso möglich machten, aber zwischen dem schiffbaren Oberlauf des Hudson River, der bei New York City in den Atlantik mündet, und dem Lake Erie lagen mehr als 400 Kilometer kaum erschlossenes Territorium. Die wenigen Siedler dort orientierten sich bereits nach Pennsylvania oder sogar Kanada im Norden, um ihre Waren zu verkaufen. New York selbst drohte im wahrsten Sinne auf der Strecke zu bleiben.

4. Juli 1817: Bein Rome erfolgt der erste Spatenstich

Die einzige Lösung, um das Land zu verbinden, war ein Kanal, wie man ihn aus Europa kannte. Doch die zu bewältigende Distanz und die unerbittliche Natur spotteten jedem Vergleich mit den Wasserwegen der Alten Welt. Dort hatte man weitgehend durch bereits kultiviertes Land gegraben. Der Aufwand schien so gigantisch wie das Risiko, der Nutzen dagegen zweifelhaft. Frühe Kanal-Befürworter wie der weitgereiste, schöngeistige Schriftsteller Elkanah Watson und der wesentlich bodenständigere Geschäftsmann Joseph Ellicot wurden deshalb regelmäßig mit Hohn und Spott übergossen. Mehr als zehn Jahre mussten vergehen und endlose politische Schlachten geschlagen werden, bevor die verwegene Idee Wirklichkeit werden konnte – und auch dann nur, weil sich der einflussreiche Gouverneur des Bundesstaates, DeWitt Clinton, dem Projekt ebenfalls mit ganzer Seele verschrieb.

Dem anfangs erwähnten Benjamin Wright wurde die Aufgabe übertragen, eine Route für den Kanal zu finden – wenn es sie gab. Nach strapaziösen Monaten im Sommer 1816 kehrte der Ingenieur schließlich mit froher Kunde aus der Wildnis zurück: Der Bau war tatsächlich möglich.

Der östliche Teil der Kanalstrecke würde dem Tal des Mohawk River vom Hudson River aufwärts folgen – in Nachbarschaft des nicht schiffbaren Flusses. Im Anschluss würde man den Oneida Lake durch das Sumpfland im Süden passieren. Danach musste der „trockene“ westliche Teil kurz vor dem Lake Erie noch die Niagara-Stufe überwinden. Eine formidable Zwanzig-Meter-Schwelle aus solidem Fels.

Schon im folgenden Jahr begannen die Arbeiten, zunächst am vergleichsweise einfachen Mittelteil, wobei jeweils kurze Teilstücke an lokale Unternehmer vergeben wurden, meist Farmer oder Händler, – ein System, das sich bewährte.

4. Juli 1820: Der mittlere Teil wird freigegeben

1820 war dieser erste Abschnitt fertig gestellt. Doch bis die endgültige „Hochzeit der Wasser“ gefeiert werden konnte, sollten fünf weitere Jahre vergehen: Zunächst mussten im Osten die Cohoes-Wasserfälle umgangen werden – für die 80 Meter Höhenunterschied waren 18 Schleusenkammern nötig. Flüsse konnten nur mit Aquädukten, Feuchtgebiet nur mit Dämmen überquert werden. Der härteste Brocken jedoch war die Niagara-Stufe: Zwei Jahre lang sprengten die irischen Arbeiter eine zehn Kilometer lange Bresche durch den harten Dolomit, bis auch diese letzte Lücke des silbernen Bandes geschlossen war.

Die Feierlichkeiten dauerten Wochen: Den Beginn machte der Gouverneur höchstpersönlich am 26. Oktober 1825 – mit einem Bootskorso, der mit Kanonendonner verabschiedet wurde. An Bord der „Seneca Chief“ ging es von Buffalo bis nach New York, wo Clinton in feierlicher Zeremonie Süßwasser aus dem weit entfernten Lake Erie in den salzigen Atlantik goss. Danach machte sich die Prozession auf die Rückreise nach Buffalo, um die vollzogene „Hochzeit“ zu melden.

September 1824: Der Kanal erreicht die Niagara-Stufe

Für Reisende eröffnete der Erie Canal eine ganz neue Welt des Komforts: Während die Postkutsche für die Strecke von Albany nach Buffalo noch immer zwei Wochen benötigte, gelangte das Kanalboot trotz Schrittgeschwindigkeit schon nach fünf Tagen ans Ziel. Doch es gab noch andere, handfeste Vorteile: „Was für eine Erleichterung ist es“, schrieb ein früher Passagier aus England über seine Kanalfahrt, „in völliger Ruhe voran zu gleiten. Ohne die blauen Flecken, die Schlaglöcher und Wurzeln selbst auf der besten Straße in dieser Wildnis verursachen. Nicht zusammengepfercht, wie in der engen Kabine der Kutsche, zwangsläufig umgeben von den vielfältigen Ausdünstungen meiner Mitreisenden“.

Noch mehr profitierte jedoch der Warentransport. Die Frachtraten für wichtige lokale Transportgüter wie Kalisalz und Schnittholz fielen auf dem Kanal um bis zu 90 Prozent; lokale Farmer und Fabrikanten konnten es sich nun leisten, ihre Erzeugnisse bis nach New York City zu verschiffen – und von dort in andere Bundesstaaten oder sogar darüber hinaus. Die Eröffnung des Kanals gab den entscheidenden Impuls, dass die kommende Metropole an der Atlantikmündung des Hudson nicht nur in Windeseile zum wichtigsten Hafen der USA aufstieg, sondern auch zu ihrem wichtigsten Finanzplatz.

Umgekehrt führte der Erie-Boom dazu, dass auch immer mehr Siedler in den Nordwesten des Bundesstaates und in das Einzugsgebiet des Erie Canals zogen, das bald über die Großen Seen und bis zum Tal des Ohio River reichte. Der Kanal wurde zur „mother of cities“, zur „Mutter von Städten“ wie Rochester und Syracuse. Bei Baubeginn des Kanals zählte Buffalo 500 Einwohner – heute eine Viertelmillion.

26. Oktober 1825: Gouverneur Clinton feiert die “Hochzeit der Wasser”

Das Räderwerk des Wirtschaftswachstums drehte sich schneller und schneller. Gouverneur Clintons Versprechungen wurden wahr: Seine Heimat, die bald den stolzen Beinamen Empire State führte, wurde zur Antriebsmaschine des ganzen Landes und zum Schlüssel seiner Zukunft. Der Erfolg schlug solche Wellen, dass eine regelrechte Kanal-Hysterie in den Vereinigten Staaten ausbrach: Überall begann man nun zu planen, zu roden und zu graben. Auch der Erie Canal bekam gleich mehrere Zubringer, doch aufgrund geringer Tiefe und kleiner Schleusenkammern drohte das Netz bald aus allen Nähten zu platzen. Also wurde verbreitert, vertieft und verlängert. Waren zuvor nur Boote bis 30 Tonnen zugelassen, stieg die zulässige Größe nun auf 240 Tonnen. Die Orte an den Ufern wuchsen in gleichem Maße: Mehr Hotelzimmer, mehr Lagerhäuser, mehr Banken wurden benötigt. Und mehr Bars, um die Wartezeiten vor den handbetriebenen Schleusen zu verkürzen.

Dann kam die Eisenbahn. Zwar war die Streckenführung durch die Wildnis nicht wesentlich einfacher als der Bau eines Kanals, doch einmal fertiggestellt, hatten selbst die zähesten Maultiere auf dem Treidelpfad keine Chance gegen das „Eiserne Pferd“ auf dem Schienenstrang nebenan. Den Anfang machte die „Mohawk and Hudson Railroad“ bereits im Jahr nach der Kanaleröffnung, doch die Canawler gaben sich nicht so leicht geschlagen.

Denn auch über dem Wasser stieg nun Dampf auf, zunächst von Schleppbooten. Bevor man an der Wende zum 20. Jahrhundert aber endgültig auf noch größere Motorgüterschiffe umsatteln konnte, musste der Kanal erneut erweitert werden. Diesmal verließ man die eingeengte alte Strecke parallel zum Mohawk River. Die moderne Zeit machte es inzwischen möglich, den wilden Fluss zu zähmen und mit Staustufen schiffbar zu machen. Als die Arbeiten 1918 abgeschlossen wurden, hatte sich die Anzahl der Schleusen zwischen Waterford im Osten und Lockport im Westen von 83 auf 36 mehr als halbiert.

Neues Leben als „New York Barge Canal”

Während alte Kanalabschnitte nun abgeschnitten in Vergessenheit gerieten und von der Natur zurückerobert wurden, erlebte die nun offiziell als New York Barge Canal bezeichnete Wasserstraße nach dem ersten Weltkrieg noch eine letzte Blüte.

An die Zeiten zur Mitte des 19. Jahrhunderts lies sich jedoch nicht mehr anknüpfen. 1959 wurde der Ausbau des Sankt-Lorenz-Seeweges zwischen den Großen Seen und dem Atlantischen Ozean abgeschlossen, einer direkten Verbindung, die selbst große Seeschiffe mit dem zwanzigfachen Ladevermögen eines canal motorships nutzen konnten. Im Binnenland beherrschte der Sattelzug zunehmend highways und interstates – und die verchromten 40-Tonner waren nicht nur schneller als der Kanalverkehr, sondern in der ebenso weitläufigen wie verzweigten Geographie der USA und Kanadas auch wesentlich flexibler. Ein knappes Jahrhundert, nachdem der „Grand Canal“ seine größten Frachtraten gemeldet hatte, entschied man sich Ende der Siebzigerjahre, keine Maßnahmen zur Modernisierung der Schleusen mehr durchzuführen.

Doch der Erie Canal (der inzwischen auch wieder so heißt) stellt sich als ebenso hartnäckig heraus, wie die Menschen, die ihn vor 200 Jahren erdachten, durchsetzten und bauten – auch wenn das Frachtaufkommen längst keine Rolle mehr spielt: Rund 200 000 Tonnen werden derzeit jährlich registriert. Auf dem Rhein sind es an einem einzelnen Tag viermal soviel.

Touristischer Bereich dominiert die Wasserstraße

Heute liegt der Reiz der einstmals längsten von Menschen geschaffenen Wasserstraße der Welt eindeutig im touristischen Bereich, zu Lande und zu Wasser. So wurde der gesamte historische Kanalverlauf von seinem spektakulären Beginn bei Cohoes Falls am Hudson River – wo neben den großen Schleusen des Barge Canals noch Teile der alten Schleusentreppe erhalten sind – bis nach Canalside, dem alten Endpunkt am Lake Erie in Buffalo, vom Kongress schon im Jahr 2000 zum nationalen Erbe erklärt.

Eine Vielzahl von Museen und Besucherzentren wie in Lockport, Syracuse, Palmyra oder Canastota geben dabei ebenso Einblicke in die wechselvolle Geschichte des Kanals wie die noch erhaltenen Abschnitte und Reste von ehemaligen Schleusen und Aquädukten – zum Teil mit großer freiwilliger Hilfe renoviert, zum Teil vom Wald überwuchert.

Der nach wie vor schiffbare, moderne Kanalverlauf, der in diesem Jahr das 100. Jubiläum seiner Eröffnung feiert, gehört weitgehend den Wassersportlern, neben Paddlern, vor allem den Motorbootfahrern, wobei die Anzahl sehr unterschiedlich ist. So trifft man im Verlauf des strukturschwachen und dünner besiedelten Mohawk-Tales selbst in der Hochsaison in erster Linie Boote auf der Durchreise, eine Hatteras aus Miami etwa, oder eine Grand Banks aus Honolulu, überraschende Exoten in diesem Hinterland des Nordens.

Ab dem Oneida Lake nimmt die Zahl der Skipper deutlich zu

Besonders im letzten, westlichsten Abschnitt bei Canastota geht es – je näher man den Großen Seen kommt – besonders an den Wochenenden kaum weniger lebendig zu, als auf Berlins Gewässern oder dem Canal Grande der Lagunenstadt Venedig.

Zuerst ist der Kanalverlauf noch tief in den Fels der Niagara-Stufe eingeschnitten, dann werden die Ufer flacher – und bevölkerter: Fahrradfahrer und Spaziergänger nutzen die Parks, Bootshäuser drängen sich ans Wasser – und davor jede Menge Verkehr, von der klassischen Chris-Craft-Launch, über vollbeladene Bowrider bis hin zur Cigarette mit blubbernden Big Blocks. Sehen und gesehen werden – was auch für den Sheriff auf seinem Jetski gilt.

Noch eine letzte roststarrende Brücke und eine letzte Biegung im Kanal, dann verkündet ein großes Schild den Weg zum Lake Erie – und plötzlich liegt der gesamte Westen dieses gewaltigen Landes offen vor dem eigenen Bug.


Revierinformationen zum Erie Canal

Nautische Hinweise: Die Länge des Erie Canals in seinem heutigen Verlauf beträgt 584 km von der Einmündung in den Hudson River bei Waterford bis zur Einmündung in den Niagara River nördlich des Lake Erie bei Tonawanda. Die Durchfahrtshöhe liegt bei 6,40 m, die Wassertiefe bei 4,25 m. Höchstgeschwindigkeit: je nach Abschnitt zwischen 5 und 30 Meilen/Stunden (8 bzw. 48 km/h). 36 Schleusen (nutzbare Kammerlänge: 91,40 m) müssen im Kanalverlauf passiert werden, der Anruf erfolgt über UKW-Kanal 13. Betriebszeiten: 7 bis 17 Uhr. Die Navigation ist unproblematisch, öffentliche Liegestellen in Ortsnähe sind ausreichend vorhanden. 2018 ist der Kanal vom 18.5. bis 10.10. geöffnet. Saisonpreise: 75 US-Dollar (8 bis 12 m), 100 Dollar (über 12 m). Weitere Infos: www.canals.ny.gov; eriecanalway.org

CHARTERFIRMEN (Auswahl): Mid-Lakes Navigation (Kanalboote), Westteil, www.midlakesnavigation.com • Canal Princess Charters (Hausboote), Westteil, www.porchesofpendleton.com • Erie Canal Cruises (Kanalboote), Mittelteil, www.canalcruises.com • Boat Oneida (Ponton- und Angelboote), Oneida Lake, www.boatoneida.com

Der Verlauf des Erie Canals:

 | Karte: Christian Tiedt

Auch interessant: